Nicht nur Die Linke befindet sich in der Krise. Der progressive Block als Ganzes gerät zusehends unter Druck. Wie kann sich die Partei in dieser Konstellation erneuern?
Von Alex Demirović
Dezember 2024
https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel...oWIKinD9H_N13Cw
Die Partei Die Linke befindet sich bekanntermaßen in einer Krise. Vor wenigen Jahren wurde sie aufgrund ihrer Wahlerfolge in den ostdeutschen Bundesländern noch als Volkspartei angesehen. Seit Längerem schon fallen ihre Erfolge von Wahl zu Wahl geringer aus, dramatische Verluste haben zuletzt dazu geführt, dass sie in vielen Landtagen nicht mehr vertreten ist. Die teils hämische Kritik von Sahra Wagenknecht an den verschiedenen Führungspersonen der Partei – breit vorgetragen in vielen Talkshows oder Buchlesungen – und die von ihr betriebene Abspaltung haben sicherlich geschadet. Insgesamt ist der Krisenprozess bis hin zu den jüngsten Austritten nach dem Landesparteitag in Berlin davon gekennzeichnet, dass keine klare Willensbildung mehr stattgefunden hat. Es sind viele Konfliktachsen entstanden, von denen nicht mehr klar ist, wie sie sich derart bündeln lassen, dass es zu einem einigermaßen kohärenten Kollektivwillen kommt.
Schwäche des progressiven Lagers
Aber die Krise der Partei Die Linke ist nicht nur eine Krise dieser Partei. Mit Schwierigkeiten sind auch die anderen Parteien konfrontiert, die links der Mitte angesiedelt werden. Die SPD verliert Mitglieder und Wähler*innen. Die Grünen, die einige Jahre von einer Erfolgswelle getragen wurden und hofften, eine neue Volkspartei zu werden und den Kanzler zu stellen, büßten erheblich an Zustimmung ein. Von anderen Parteien gab es den Grünen und ihrem Führungspersonal gegenüber eine regelrechte Feinderklärung, die in der Bevölkerung Resonanz fand. Nach den Wahlniederlagen in den ostdeutschen Bundesländern ist der Vorstand der grünen Partei zurückgetreten. Die Kritik an der Ampelregierung geht weit über eine Oppositionspolitik hinaus und ist getragen vom Willen, die Regierung außerhalb der Legislaturperiode zur Aufgabe zu zwingen – und damit letztlich die sozial-ökologische Erneuerung aufzugeben.
Auch die Gewerkschaften und die betrieblichen Interessenvertretungen werden von den Unternehmen häufig bekämpft. Eine tragende Säule des wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses, die Rentenversicherung, wird massiv mit dem Argument der Generationengerechtigkeit angegriffen. Das wird die Gewerkschaften und Sozialverbände weiter schwächen. Unter Druck stehen viele Bildungseinrichtungen und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen, die in den vergangenen Jahren ziemlich erfolgreich waren. Ich denke etwa an Attac Deutschland oder an Fridays for Future.
Offensichtlich verändert sich die Form des Bewegungs- und Protestzyklus. Es gibt weiterhin viele linke Diskussionen, Gruppen und Aktivitäten. Aber sie sind desartikuliert. Sie bündeln sich gerade nur wenig in den organisatorischen Zusammenhängen und konturierten Diskussionen der Partei Die Linke, die die Praktiken repräsentieren und Kooperation herstellen konnten – wie das bei der Kritik der Globalisierung und der Finanzmärkte, bei der Unterstützung der Geflüchteten, bei der Mitwirkung an Streiks in den Krankenhäusern oder bei Mieter*inneninitiativen und Diskussionen über Enteignung der Fall war. Das gesamte progressive Lager wird geschwächt durch Angriffe auf die sogenannte politische Korrektheit, auf Kulturmarxismus, Identitätspolitik oder Wokeness.
Angesichts ihrer konkreten Politiken ist es schwierig, die SPD und die Grünen als Teil eines progressiven Lagers zu verstehen. Aber sie bilden mit vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen und linken Aktivitäten einen Resonanzraum. Sie verfolgen zumindest teilweise Ziele, die für Linke und soziale Bewegungen wichtige Bezugspunkte darstellen. Unterschiedlich konsequent und widersprüchlich treten SPD und Grüne für soziale Gerechtigkeit und Demokratie, für Menschenrechte und Sozialstaat, für den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Infrastrukturen ein. In der Linken und der SPD finden sich Kräfte, die für einen demokratischen Sozialismus eintreten. Wie die Linke sind Teile der SPD und Grünen für eine Friedenspolitik und gegen Aufrüstung. Beide Parteien der Ampelkoalition verfolgen diese progressiven Momente nicht konsequent, sondern versuchen, sie mit der herrschenden neoliberalen Politik zu vereinbaren, durch Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Der sozial-ökologische Umbau wird trotz vieler Absichtserklärungen und Gesetze in vielen Hinsichten verschleppt, opportunistisch versagen die Grünen in Fragen des Verkehrs, der Landwirtschaft, der Veränderung der Konsumstile; die Migrationspolitik wird weiter nach rechts verschärft usw.
Die Linke als Teil eines widersprüchlichen Blocks
Gegenüber SPD und Grünen kann man auf Widersprüche und Inkonsequenzen hinweisen, aufgrund derer viele aus guten Gründen immer wieder verärgert und enttäuscht sind. Doch diese Widersprüche gehören seit vielen Jahren zu diesen Parteien. Eher als einen dritten Pol bildet die Linke mit diesen beiden Parteien einen widersprüchlichen progressiven Block: Sie teilt Positionen mit ihnen, befindet sich in Opposition zu ihnen und markiert eine Differenz. Denn sie steht für Tendenzen, für einen sozialistischen Ausweg aus der multiplen Krise einzutreten, in die der Kapitalismus die Weltgesellschaft geführt hat, Tendenzen, die die Leute derart subjektivieren, dass sie bereit sind, einen Bruch mit ihren Lebensgewohnheiten zu vollziehen. Zu einem guten Teil lassen sich die Angriffe auf den progressiven Block so verstehen, dass genau diese Perspektive auch unter Rückgriff auf faschistische Momente verstellt werden soll. Mit den militärischen Konflikten auf dem Gebiet der Ukraine und im Nahen Osten wird der fossile Industriekomplex revitalisiert: Unproduktive Verwendung von Ressourcen und Arbeitsvermögen für die Aufrüstung oder die Kriegsführung, Nutzung fossiler Energieträger, Ressourcenmangel für den Umbau, Flüchtlingsbewegungen – das alles verhindert den notwendigen organischen, friedlichen Umbauprozess.
Dem progressiven Block steht ein konservativ-reaktionärer Block aus CDU/CSU, AfD, BSW und FDP gegenüber. Dieser Block verfolgt eine Politik für die Bourgeoisie und den Mittelstand – also Kapitaleigentümer*innen, wohlhabende Steuervermeidende, Selbstständige –, bekämpft notwendige Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen, lehnt Maßnahmen für den sozial-ökologischen Umbau ab, tendiert zum Rassismus. Das führt zu Feindschaft gegenüber Muslim*en und einem bekenntnishaften autoritären Anti-Antisemitismus.
Geist des pseudorationalen Affekts: Sahra Wagenknecht
Wir benötigen eine demokratisch-sozialistische Partei. Das ist mittlerweile auch manchen bürgerlichen Journalist*innen klar, die Sorge vor der weiteren autoritären Entwicklung und einer Zerstörung der Demokratie haben. Teile der Medien haben Sahra Wagenknecht über viele Jahre als Zeugin gegen die Linke aufgebaut. Sie stand exotisch für eine sture, unbelehrbare (SED-)Nostalgie: für Stalin und Mauerbau, Goethe und Ludwig Erhard. Mit ihr konnte man demonstrieren, was in der Linken drinsteckt an Gefahren. Aus diesem Geist des pseudorationalen Affekts konnte sie später auch in Stellung gebracht werden gegen die sozialistischen Kräfte in der Linken, denen sie öffentlich vorhalten durfte, gar nicht wirklich für die unteren sozialen Klassen, für soziale Gleichheit einzutreten, sondern sich in Symbolkämpfen zu verrennen. Das passte den Rechten in den Kram: eine prominente Linke, die die Gewalt in den Familien gegen Frauen und Kinder, gegen Schwule und Lesben, gegen Trans*personen als Wahn erachtete, die Kritik an den patriarchalen und sexistischen Lebensformen als elitäre Identitätspolitik verächtlich machte.
Wagenknechts Politik selbst steht für wahnhafte Realitätsverleugnung als Protestprogramm: zu den Aggressionen Putins, zu seiner Bedeutung für den globalen Faschismus (u. a. durch finanzielle und mediale Unterstützung rechter Kräfte in der EU) kein Wort, sondern zwanghafte Nüchternheit und Rationalität. Es handelt sich um Appeasement-Politik. Die Haltung von Wagenknecht ist instrumentell: Sie sucht diejenigen, die sie vertreten kann und will, technisch auf der Grundlage von Umfragen. Es geht nicht um deren Beteiligung an einer demokratischen Willensbildung von unten; es geht um Akklamation für autoritär-populistische Führerschaft. Es ist ein Geschäftsmodell für Politikunternehmer*innen. Dabei kommt es zur Verschiebung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen weg von der Klassenspaltung zu der zwischen einer vermeintlich grün-liberalen »Elite« und einem sozial-konservativen Teil der Beschäftigten und Kleinunternehmer*innen – gegen Geflüchtete und gesellschaftliche Minderheiten. Wenn das neben der sozial-konservativen bis reaktionären Ideologie dennoch eine Dimension von Klassenpolitik hat, dann, weil sie die Interessen von Mittelstand, Teilen der Rentner*innen, konservativen Angestellten und dem Teil der Industriearbeitenden, der sich gegen eine klimaneutrale Transformation wendet, verbindet. Eine rückwärtsgewandte Allianz für eine standortnationalistische Industriepolitik auf fossiler Grundlage wird konstruiert, die weiter auf billige russische Gaslieferungen setzt. Wie gefährlich das für die Demokratie ist, merken nun auch die konservativ-liberalen Medien, die sie bis vor Kurzem noch als Kronzeugin genutzt haben.
Für einen Neuversuch mit der Partei Die Linke
Eine demokratische ökologisch-sozialistische Partei ist notwendig – sie kann aus der Gründung einer neuen Partei hervorgehen, wie manche angesichts der Krise der Linken überlegt haben, oder aus einer Wiederbelebung der Partei Die Linke. Ich plädiere für einen Neuversuch mit der Partei Die Linke in Diskussionen zwischen denen, die in der gesellschaftlichen Linken und in der Partei ein Interesse an deren Kontinuität haben. Denn diese Partei gibt es, sie verfügt über konkrete Erfahrungen mit Erfolgen und Niederlagen, über ein breites Programm und erhebliche Diskussionserfahrungen. Sie hat weiterhin Abgeordnete, nimmt an Landesregierungen teil, ist immer noch im Bundestag vertreten, hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung, verfügt über eine gewisse Bekanntheit und internationale Beziehungen einschließlich der Mitgliedschaft in der Europäischen Linken (die gerade ihrerseits eine Krise erfährt). Es hat ein Bundesparteitag stattgefunden, der zwei neue Vorsitzende gewählt hat. Aber das wird sicherlich nicht ausreichen, um die Partei von innen zu erneuern. Zeit zu gewinnen ist gut – auch dadurch, dass ältere Abgeordnete noch einmal kandidieren und helfen könnten, Direktmandate zu erlangen und die Partei parlamentarisch abzusichern. Aber die Älteren sollten nicht als »Retter« auftreten, sondern zurückhaltend – mit Blick auf die nächsten Generationen – agieren. Denn manche, die nun in einer »Aktion Silberlocke« die Partei noch einmal retten wollen, haben mit ihrer Rolle in der Bundestagsfraktion, die lange am Bündnis mit Wagenknecht festhielt, obwohl sie die Partei erpresste und längst an einer neuen Partei arbeitete, erheblich zur Krise der Partei beigetragen.
Die Linke als Produktivkraft
Parteientheoretisch gesprochen sollte die Partei Die Linke als eine Produktivkraft verstanden werden. Damit will ich sagen, dass Individuen und Gruppen sich organisieren, um ihre Kräfte zu kombinieren und zu vervielfältigen. Zusammen können sie auf diese Weise mehr erreichen als jeweils allein für sich. Das ermächtigt sie; es gibt ihnen den Raum, sich wechselseitig als verändernde Kräfte wiederzuerkennen, sich zu verständigen, Ziele zu formulieren. Das unterscheidet Die Linke von anderen Parteien.
Diese organisieren die Fraktionen des Machtblocks, indem sie verschiedene Konsense der Herrschenden, Strategien der Macht, Entscheidungen des Staates vorbereiten und umsetzen. Diese Parteien sind eher Transmissionsriemen der Macht, setzen also bürgerlich-herrschaftliche Ziele um. Dafür organisieren die Parteien Zustimmung. Diese stützt sich auf das Vertrauen in die Macht der Herrschenden, das Überleben des Kollektivs zu organisieren und zu sichern. Üblicherweise spielt deswegen die Zuschreibung von Wirtschaftskompetenz eine besonders wichtige Rolle. Um diese Macht zu demonstrieren, werden auch Posten und Pfründe verteilt. Aber diese Strategie der Herrschaftssicherung funktioniert nicht mehr reibungslos: Hitzeperioden, ökologische Turbulenzen mit Wetterkatastrophen oder invasiven Arten, Erschöpfung der Infrastrukturen, Verlust von Eigentum können durch Versicherungen oder Staat immer weniger aufgefangen werden.
Bildungsprozesse organisieren
Einen solchen Rückhalt unter den Mächtigen hat die Linke nicht, und umso weniger, je ausdrücklicher sie eine sozialistische Programmatik verfolgt. Als Partei bildet sie sich in hohem Maße als ein stetiger Prozess der Selbstorganisation und Initiative von unten. Dazu gehört auch, dass sie als Partei Bildungsprozesse organisiert. Denn die gesellschaftsverändernde Perspektive beinhaltet, dass die Menschen um die Partei herum und ihre Mitglieder selbst ein Verständnis der Lage und Widersprüche der Gesellschaft haben – also wissen, warum sie für das Ziel des demokratischen Sozialismus eintreten. Dieses Ziel ist die konkrete Lösung der konkreten Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft.
Was genau diese konkreten Probleme sind, wie sie konkret gelöst werden, wie sehr das unter den gegenwärtigen Verhältnissen schon geschehen kann, welche Wege und Schritte verfolgt werden sollten, wie viel Zeit für solche Veränderungen bleibt, wie neue Verhältnisse beschaffen sein sollten – das alles sind Fragen, die diskutiert werden müssen und über die gestritten wird. Dabei entstehen zwei Probleme.
Erstens besteht die Möglichkeit, dass sich die Partei mit ihren Diskussionen zu sehr nach innen wendet; dass also für die, die am parteilichen Prozess nicht unmittelbar beteiligt sind – das nähere und weitere Umfeld der gesellschaftlichen Linken, die Medien, die vielen Leute, für die Politik nur sehr vermittelt überhaupt eine Rolle spielt und die dem politischen Alltagsgeschäft ohnehin als Herrschaftsprozess skeptisch und distanziert gegenüberstehen –, diese Diskussionen und die daraus resultierenden Widersprüche und Streitigkeiten nicht mehr nachvollziehbar sind.
Zweitens ist die Partei, ob sie will oder nicht, Teil des Parteiensystems, also Teil der bürgerlichen Herrschaftsausübung. Wenn sie an Wahlen teilnimmt, dann ist sie in den repräsentativen Körperschaften mit alltäglichen Entscheidungen über nahezu jeden Lebensbereich befasst und berührt damit immer die Interessen und Lebensformen gesellschaftlicher Gruppen und Klassen. Mit der Logik der Repräsentation ist eine Partei im politischen Leben einerseits sichtbarer, andererseits sind viele ihrer Vertreter*innen auch vom Alltag der Menschen getrennt.
Beide Aspekte bedeuten, dass eine linke, erst recht aber eine sozialistische Partei sorgsam darauf achten muss, die Diskussionen in den politischen Entscheidungsgremien genau zu vermitteln, auch andersherum Wissen von »außen« und »unten« aufzunehmen und einen politischen Bildungsprozess und darüber hinaus Lernprozesse in den verschiedenen Emanzipationskämpfen zu organisieren.
Solidarisch miteinander streiten lernen
Dabei geht es auch um den Ton, die Verhaltensmuster. Es gibt eine ungute Form des Besserwissens auch – oder gerade – in der Linken, das Spaltungslinien erzeugt oder verstärkt zwischen Ossis und Wessis, Älteren und Jüngeren, Männern und Frauen. Es lässt sich ein auftrumpfendes Verhalten beobachten – häufig von älteren Männern – die belehren und recht haben wollen. Die Linke ist anfällig dafür, weil sie ein eigenes Wissen erzeugen und tradieren muss und weil ihre Politik einen hohen Rationalitäts- und Wirklichkeitsanspruch hat. Politische Produktivkräfte können durch ungeeignete Produktionsverhältnisse auch blockiert oder zerstört werden. Die Partei gehört nicht einigen wenigen, nicht einmal allen Mitgliedern, sondern allen, um deren Zukunft und Emanzipation es geht. Das gilt auch für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es muss an den parteilichen Verhältnissen als Kräfteverhältnissen gearbeitet werden. Dazu gehören die Kommunikationspraktiken. Das bedeutet etwa die Erreichbarkeit und Offenheit der Verantwortungsträger*innen, also die Fähigkeit, zuhören zu können, fehlerhafte Äußerungen auch stehen zu lassen, kritische Äußerungen zu ertragen und nicht cholerisch niederzubrüllen oder als Beleidigung zu betrachten, sich dem demokratischen Prozess verpflichtet zu fühlen und nicht Praktiken der taktischen Übermächtigung zu verfolgen.
Das sind einzelne Praktiken. Weit darüber hinaus geht es um eine umfassende demokratische und solidarische Kommunikations- und Wissenskultur, die alle beteiligt und höher bildet, also befähigt, Intellektuelle zu werden und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu kennen und zu lenken. Die Schelte und Ablehnung, die gebildete urbane Milieus und ihre experimentellen Lebensformen mit ihren innovativen Erfahrungen, Gefühlen, Praktiken häufig aus der Politik erfahren, ist abzulehnen. Vielmehr geht es darum, gerade diese Milieus mit ihren intellektuellen Kompetenzen zu organisieren und ihre Weltauffassung wie ihre Fähigkeit zur solidarischen Organisierung miteinander zur emanzipatorischen Veränderung des Alltags wie der Gesellschaft ethisch-politisch fortzuentwickeln.
Nicht ist diesen Milieus vorzuwerfen, dass sie keine Klassenpolitik verfolgen. Klassenpolitik wird immer verfolgt, weil kapitalistischen Gesellschaften immer Klassen angehören. Dass die Linke im gebildeten Kleinbürgertum verankert ist, ist gut. Viele in den Milieus gehören aber auch zur Arbeiterklasse, denn sie verwerten an der einen oder anderen Stelle Kapital. Umgekehrt kann ein Arbeiter im Motorenbau bei Mercedes eine Trans*person oder die Kassiererin bei Aldi gleichgeschlechtlich orientiert sein. Dennoch ist richtig, dass eine sozialistische Partei die Lohnarbeitenden vor allem auch als Lohnarbeitende organisieren muss, also die Ausbeutung durch Lohnarbeit zum Thema machen muss.
Dissens statt Anpassung
Zum Selbstverständnis einer sozialistischen Partei muss gehören, dass sie unter bürgerlichen Verhältnissen von relevanten Kräften nicht geschätzt oder anerkannt wird. Der Dissens, die Verweigerung, mitzumachen, muss zu spüren sein. Anpassung hilft nichts. Es gibt starke Kräfte, die gegen die Partei arbeiten und sie loswerden wollen. Dass die Partei sich in der Krise befindet, hat nicht einfach mit ihrem Unvermögen, mit einer schlechten Programmatik oder ihrem Personal zu tun. Das natürlich auch. Wenn jemand aus der linken Bundestagsfraktion sich des Themas Kinderarmut annimmt, dann ist das selbstverständlich gut. Aber wenn es nur bürokratisch verwaltet wird, dann bringt es nichts. Es fehlt das Moment der Anschaulichkeit, der Erfahrungsvermittlung, der Einsicht in all die Konsequenzen, die die Armut für Kinder, Jugendliche, Eltern (vor allem alleinerziehende Mütter) hat.
Mir erscheint es wichtig, schon die Existenz der Partei, ihre konkrete Gestalt als eine konkrete Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu begreifen. Die Partei in ihrer konkreten Existenz ist Ergebnis von Kämpfen. Sie wird von den herrschenden Kräften bekämpft. Zu sagen, endlich sei die Linke in der Bundesrepublik angekommen, war immer schon naiv und leugnet diese Auseinandersetzung. Ein quasi-neutraler, technischer Blick auf die Existenz der Partei und ihre Aktivitäten erscheint mir nicht ergiebig. Es wird so eigenartig abstrakt gesprochen: »Die Partei muss dieses oder jenes tun«, so als wäre man nicht Teil dieses Prozesses, als hinge alles vom richtigen, durchgerechneten Programm, der Personalauswahl, vom Auftritt einzelner Vertreter*innen der Partei, vom Wahlkampf ab. Das alles sind wichtige Elemente, und sie können nicht ignoriert werden. Aber es bedarf eines genauen Verständnisses der Konstellationen, der Kräfteverhältnisse, in denen sich die Partei und ihre Aktiven bewegen müssen. Auf dieser Basis ist es dann auch wichtig, mit sachkundigen Argumenten politisch zu handeln, auf interessante Weise zu kommunizieren, die richtigen Personen an die richtigen Stellen zu bringen.
Die Realität der Vielen sichtbar machen
Die Partei kann sich nicht damit begnügen, zu sagen, was ist. Das kommt von Ferdinand Lasalle, und Rosa Luxemburg hat es aufgegriffen. Doch das, was ist, liegt nicht einfach vor Augen. Es bedarf der Fähigkeit, die Verhältnisse zu entschlüsseln. Das spüren viele, aber um es sich einfach zu machen, flüchten sich die Leute in abstrakte oder falsche Wahrheiten, verstecken sich hinter Allerweltsweisheiten, bleiben bei oberflächlichen Gegebenheiten oder hängen Verschwörungsideologien an. Es ist ein zivilisatorischer Gewinn, der von der sozialistischen Linken seit Marx durchgesetzt wurde: den Kampf um die Objektivität zu führen, also eine Realität sichtbar zu machen, in der viele Menschen leben. Die bürgerliche Welt besteht als gespaltene Klassengesellschaft aus mehreren Welten. Viele Welten kommen darin aber gar nicht vor: die Alleinerziehenden, die körperlich Arbeitenden, die prekär Beschäftigten, die migrantischen Milieus und Geflüchtete. Es wird über sie, aber nicht mit ihnen geredet. Sie werden wie Tiere im Zoo präsentiert, aber sie werden nicht als Subjekte ernst genommen, die ein Recht haben, zu lernen, zu begreifen, sich aus ihrer Misere zu befreien. Dem Allgemeinen, dem mächtigen Kollektiv wird der Vorrang vor den Einzelnen eingeräumt, dass die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft durch die Einzelnen und die sozialen Gruppen bestimmt würden, ist nicht vorgesehen.
Diesen demokratischen Prozess zu organisieren wäre die Aufgabe der Partei der Linken. Sagen, was ist, das ist keine einfache Tatsachenfeststellung, sondern eine hegemoniale Aktivität, mit der Erfahrungen entziffert und im Zusammenhang erklärt werden. Die Welt des Bürgertums ist bestimmt von der Logik des Wachstums, des Profits, der Wettbewerbsfähigkeit – eine Logik, eingerichtet für die Freiheit Weniger. Diese Logik markiert die Grenze für all die Politiken, die verfolgt werden, um mit den vielfachen Krisen umzugehen. Alles soll sich ändern, aber das Wesentliche nicht berühren. Erwartet wird, dass es raffinierte Tricks geben könnte, um die ökologischen Krisendynamiken zu bewältigen: neue Technologien oder Ressourceneinsparungen bei noch mehr Produktion, noch mehr Nachfrage. Am Ende erweist es sich, dass es nicht funktioniert, denn die Kapitalakkumulation verlangt nach mehr Wachstum, mehr Lohnarbeit, mehr Nachfrage. Erneuerbare Energien oder E-Autos benötigen aufwendig zur Verfügung gestellte Ressourcen, die Abfallentsorgung ist nicht geklärt, der Extraktivismus wühlt weiter die Erdkruste auf, zerstört die Meere, vertreibt Menschen, verwüstet die Lebensperspektive der Einzelnen und verhindert ihre Mitsprache.
Dem hat Marx die Logik der gesellschaftlichen Kooperation, der Selbstbestimmung der frei Assoziierten entgegengesetzt. Eine andere Auffassung von Wirklichkeit: die Kooperation, das Gemeinsame, die demokratische Willensbildung durch und für alle. Für diese neue Logik sollte die linke Partei streiten. Eine solche Aufgabe nimmt sie nicht nur für sich und einige Mitglieder wahr, sondern für die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Umso unverständlicher ist der Unverstand der Gesellschaft, die ein solches Projekt nicht unterstützt und sich nicht an seiner Gestaltung beteiligt.