Freedom Day – Was heißt hier Freiheit?
Friedrich Weißbach veröffentlicht am 15 März 2022
Die Aufhebung der Coronamaßnahmen Ende dieser Woche als „Freedom Day“ zu bezeichnen, zeugt nicht nur von einer zynischen Geschichtsvergessenheit, sondern ist auch Ausdruck eines vereinfachten Freiheitsverständnisses.
Die Entscheidung ist gefallen. Am 20. März werden die verhängten Maßnahmen zur Einschränkung des Coronavirus weitgehend aufgehoben. Längst wurde von Politik und Medien der deutsche „Freedom Day“ proklamiert. Dieses prominent vom exzentrischen Premier Boris Johnson im Sommer 2021 eingeführte Konzept wurde vom gesellschaftlichen Diskurs überwiegend unhinterfragt übernommen. Doch schaut man genauer hin, erweist es sich als genauso trügerisch wie geschichtsvergessen und offenbart ein sehr vereinfachtes Verständnis von Freiheit.
Der Begriff hat seinen Ursprung in den USA und referiert auf die Unterzeichnung eines gemeinsam gefassten Beschlusses zwischen Repräsentantenhaus und Senat durch Präsident Abraham Lincoln im Jahr 1865, in welchem die Abschaffung der Sklaverei beschlossen wurde. Der Freedom Day setzte einen Schlusspunkt hinter eine jahrhundertelange Geschichte der Unterdrückung und Gewalt, deren Ausläufer bis in die Gegenwart spürbar und längst nicht überwunden sind. Die intendierte Freiheit beschreibt also im wahrsten Sinne des Wortes die Befreiung von Ketten. In diesem Licht erscheint es als anmaßend und geschmacklos, die Aufhebung der Masken- oder Impfnachweispflicht als Freedom Day zu bezeichnen, stellt man doch implizit die Versklavung und die zum Schutz des vulnerablen Teils der Bevölkerung getroffenen Maßnahmen auf eine Stufe.
NEGATIVE FREIHEIT
Doch auch jenseits der historischen Geschmacklosigkeit stellt sich die Frage, ob man überhaupt von einer Wiedergewinnung von Freiheit sprechen kann. Dies würde voraussetzen, dass man durch die Maßnahmen seiner Freiheiten beraubt wäre. Die zugrundeliegende Frage ist so philosophisch wie essentiell: Was ist Freiheit? Das sicherlich geläufigste Verständnis von Freiheit wird im philosophischen Diskurs als negative Freiheit bezeichnet. „Unter Freiheit“, so lässt es sich mit Thomas Hobbes formulieren, „versteht man nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes die Abwesenheit äußerer Hindernisse.“
Negativ ist diese Freiheit, nicht weil sie moralisch als schlecht befunden wird, sondern weil sie sich über die Verneinung von etwas (den Hindernissen) definiert. In diesem Sinne wird Freiheit als etwas verstanden, was jeder Mensch von Geburt an besitzt und was durch äußere Einflüsse, zum Beispiel durch den Staat, genommen werden kann. Die Handlungen eines Individuums sind jenseits einer normativen Bewertung, solange sie nicht die Freiheit anderer Menschen einschränken. Dieses Prinzip der Nicht-Einmischung bildet das Fundament einer liberalen Weltanschauung. In diesem Licht können die Coronamaßnahmen als Einschränkungen der persönlichen Freiheit beschrieben werden. So ist es auch keineswegs überraschend, dass das Konzept des Freedom Days im Mutterland des Liberalismus geprägt wurde.
POSITIVE FREIHEIT
Gegen dieses negative Verständnis von Freiheit setzen Theoretiker*innen wie Rousseau, Arendt, Taylor oder Honneth ein positives Freiheitsverständnis. Sie verstehen Freiheit nicht als Freiheit von etwas, sondern als Freiheit zu etwas – etwa zur politischen Teilhabe. Die positive Freiheit ist also eine Kategorie der Ermöglichung, die auf konkreten Wertvorstellungen fundiert. Sie verweist auf die materiellen Notwendigkeiten und sozialen Aspekte, die notwendig sind, um als Individuum überhaupt zu existieren und die die Voraussetzung für ein freies Handeln im liberalen Sinne bilden. Jeder Mensch befindet sich von Geburt an in einer sozialen Abhängigkeit. Ohne das Zutun der Mitmenschen hätte man weder Essen auf dem Teller noch Kleidung am Körper, geschweige denn Kultur oder ein Gesundheitssystem. Das liberale Ideal eines absolut autarken Menschen à la Robinson Crusoe erweist sich als illusorisch. In einem positiven Verständnis darf Freiheit also nicht als Gegensatz zur Sozialität betrachtet werden. Vielmehr bildet das Soziale die Bedingung für die Ermöglichung der Freiheit. Mit Axel Honneth lässt sich deswegen auch von einer sozialen Freiheit reden.
Die ergriffenen Maßnahmen im Kontext der Corona-Pandemie waren geleitet von einem positiven Freiheitsverständnis. Einschränkungen wurden beschlossen, um die Freiheit zu einer funktionierenden Gesundheitsversorgung zu garantieren: Letztlich ging es um die Freiheit zu leben. Ausdruck dieses sozial verstandenen Freiheitsverständnisses war die eindrucksvolle Renaissance des nahezu vergessenen Begriffs der Solidarität. Die Bevölkerung hat sich eingeschränkt, damit fundamentale Bereiche des sozialen Lebens, insbesondere das Gesundheitssystem, nicht wegfallen.
Kritiker*innen eines positiven Freiheitsverständnisses argumentieren, dass nicht nur die Ziele, also die Frage, was ein gutes gesellschaftliches Leben ausmache, normativ vage seien, sondern auch, dass die Gesellschaften Gefahr liefen, im Zeichen der Freiheit paternalistisch, autoritär und im schlimmsten Fall totalitär zu handeln. Isaiah Berlin bringt diese Einwände auf den Punkt, wenn er seine Bedenken gegen Handlungen von Regierungen für eine vermeintlich höhere Freiheit ausdrückt: „So kann man sich leicht einreden, andere zu ihrem Glück zwingen zu müssen: nicht im eigenen, sondern nur in ihrem Interesse. Damit geht häufig das Postulat einher, besser als sie selber zu wissen, was gut für sie ist, so dass sie als wahrhaft kluge, vernünftige Menschen gar nichts einzuwenden hätten.“ Gegner*innen der Coronamaßnahmen stimmen in diese Klage ein, wenn sie eine vermeintliche Coronadiktatur heraufziehen sehen. In der Beschränkung ihrer individuellen Freiheit fühlen sie sich fremdbestimmt, bevormundet und als minder klug herabgestuft. Positive und negative Freiheitsverständnisse scheinen sich unversöhnlich gegenüberzustehen ohne Aussicht auf eine Annäherung. Es stellt sich die Frage, ob es eine Lösung für diese den gesellschaftlichen Frieden ins Wanken bringende Pattsituation gibt. Kann der Graben zwischen den zwei oppositionellen Weltsichten überwunden werden?
HEGELS DIALEKTISCHE VERMITTLUNG
In seiner Abhandlung Grundlinien einer Philosophie des Rechts argumentiert Hegel für ein mehrstufiges Freiheitsverständnis, das sowohl die negative als auch die positive Freiheit umfasst. In seiner unverwechselbaren Weise nimmt Hegel die Leser*in mit auf eine Reise der Reflexion. Ganz im Sinne Kants argumentiert er in einem ersten Schritt für die Autonomie, also für die Freiheit des einzelnen Individuums, sich selbst Gesetze zu geben und sein Leben damit selbst zu bestimmen. Zunächst wird Freiheit also negativ verstanden, nämlich als die Fähigkeit zu tun, was ich will, also losgelöst von der Determiniertheit natürlicher Zwänge zu handeln. In diesem abstrakten Wollen ist der Mensch formell frei. In der Verwirklichung erfährt der Wille jedoch seine Grenzen. Auch an sich erweist sich die Freiheit des Wollens als trügerisch: Zu oft gibt es Situationen, in denen wir auf einer ersten Stufe etwas wollen, was nicht gut für uns ist und was wir nach gründlichem Nachdenken auf einer zweiten Stufe deswegen nicht wollen. Freiheit ist also, das zu tun, was ich wirklich will und eben nicht die Vorstellung einer schrankenlosen Freiheit, die Hegel als unwahre Abstraktion verwirft. Freiheit ist eine Loslösung sowohl von äußeren als auch inneren Zwängen.
Um die eigenen Wünsche zu bewerten, bedarf es demnach einer Form der Reflexion. Anders als Kant verweist Hegel in diesem Kontext aber nicht auf eine transzendentale Vernunft, die quasi in einem luftleeren Raum existiert. Die Maßstäbe zur Bewertung der eigenen Handlung ergeben sich aus den historisch gewachsenen Normvorstellungen der Gemeinschaft, in die das Subjekt hineingeboren wird. Auf einer zweiten Stufe begreift Hegel Freiheit also nicht länger als eine natürliche und schrankenlose Qualität des Willens, sondern immer schon als gesellschaftlich vermittelt und als das Verhältnis freier Willen zueinander: Das andere Individuum, das im negativen Freiheitsverständnis als Grenze der eigenen Freiheit betrachtet wird, ist bei Hegel die notwendige Bedingung der eigenen Freiheit. In diesem Sinne erweist sich Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit. Freiheit gibt es somit nur im Kontext sozialer Praktiken und ihrer Institutionen. Als unmittelbaren Ausdruck eines gesellschaftlich vermittelten, freien und gesetzgebenden Willens sieht Hegel das Recht und die Sittlichkeit als eine Verwirklichung der Freiheit. „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das Lebendige Gute“. Darin unterscheidet sich Hegel auch von Vertragstheoretikern wie Hobbes, die im Gesellschaftsvertrag eine bloße, wenn auch notwendige Einschränkung der natürlichen Freiheit sehen.
„Die Lehre aus der Kritik der negativen Freiheit durch Hegel“ – so fassen es Rahel Jaeggi und Robin Celikates prägnant zusammen – „kann deshalb nicht die Verabschiedung der negativen Freiheit sein, sondern nur deren Situierung in einem weiteren Kontext, der auch die komplementäre Bedeutung positiver Freiheit sowie der sozialen Bedingungen von Freiheit hervortreten lässt.“ Hegel zeigt, dass beide Freiheitskonzepte nicht losgelöst voneinander zu denken sind, sondern zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Die oft von Liberalen postulierten subjektiven Freiheitsrechte sind nicht identisch mit Freiheit in diesem komplexen Sinne, sondern nur eine Seite von ihr. Eine so verstandene Freiheit ist nur dann autoritär, wenn die Bedeutung der negativen Freiheit vollkommen vergessen wird, nicht wenn sie partiell eingeschränkt wird.
DEMOKRATIE IST EIN PERMANENTER AUSHANDLUNGSPROZESS
Hier liegt das Missverständnis all jener Positionen, die in den Coronamaßnahmen einen Verlust der Freiheit sehen. Die getroffenen Maßnahmen sind ohne Zweifel Beschränkungen der persönlichen Freiheit, aber sicher nicht ihr Verlust. Im Gegenteil lassen sich die Maßnahmen als Ausdruck eines freien Willens der Gesellschaft verstehen. Genauso wie man sich als einzelne Person einschränkt, um einen Willen zweiter Ordnung zu erfüllen, setzt sich die Gesellschaft Grenzen, um selbstgesetzte Ziele zu erreichen – die konstant hohen Zustimmungswerte innerhalb der Bevölkerung unterstreichen diesen Gedanken. Doch wäre es fatal, so zu tun, als wäre der Wille der Gemeinschaft homogen. An den Handlungen der Regierung wird der Drahtseilakt, den jede Gemeinschaft vollführen muss, deutlich: Jede demokratische Regierung ist bestrebt, die partikularen Interessen so miteinander zu versöhnen, dass dadurch die größtmögliche soziale Freiheit und damit einhergehend auch individuelle Freiheit verwirklicht werden kann.
Wie an Hegel deutlich wurde, liegt die individuelle Freiheitsbeschränkung im Wesen jeder Gemeinschaft. Wie weit diese gehen, ist Frage eines politischen Aushandlungsprozesses. Hinsichtlich der Coronamaßnahmen kommt hinzu, dass zu keinem Zeitpunkt die Werte der eingeschränkten Rechte vergessen, sondern deren Wiedergewinnung als ausgeschriebenes Ziel formuliert wurde. Darin unterscheiden sich die getroffenen Maßnahmen von der Sklaverei. Hier sind die betroffenen Subjekte nicht nur nicht selbst Autor*innen ihrer Einschränkungen, sondern ihnen wird der Subjektstatus und damit jede Form eines freien Willens an sich abgesprochen. Zu reinen Objekten degradiert, erscheinen Sklaven als Opfer gewaltvoller Fremdbestimmung. Die Abschaffung der Sklaverei kann deswegen mit gutem Recht als Freedom Day zelebriert werden. Bei der Aufhebung der Coronamaßnahmen ist dies nicht nur historisch zynisch, sondern auch philosophisch mehr als fragwürdig. •