Junge Welt:
Aus: Ausgabe vom 19.01.2022, Seite 14 / Feuilleton
https://www.jungewelt.de/artikel/418861....zIL8Hviq7M4Wo3Q
Aus: Ausgabe vom 19.01.2022, Seite 14 / Feuilleton
SCHLAGWORTE
Rotlicht: Genossin/Genosse
Von Ken Merten

Bild:
REUTERS/Andrey Volkov
Es sich und allen so einzurichten, dass es schön ist, ist das Interesse der Kommunisten
»Genosse, ja / Genosse, ja / Genosse, ja / Drem bleib’n mr noch e weng do«, heißt es im Kehrreim des Barden Anton Günther – nicht. Dass es sich um eine Fehlleistung des Hörers handelt, entlarvt die Liedpostkarte, auf der das Lied 1903 erstveröffentlicht wurde. Nix »Genosse, ja«, sondern »E nu sa ja«. Eine Lautmalerei, die selbst erzgebirgische Muttersprachler nicht recht hinterblicken, auch wenn sich phonisch, weniger syntaktisch, aufdrängt, es einzudeutschen in »Hey, nun sag schon ja«, an das die Zeile »Drum bleiben wir noch ein wenig da« anschließt. Zu Weihnachten ist das Volkslied, das die Gemütlichkeit des geschützten Beisammensitzens in stürmischen Zeiten verhandelt, ein unschlagbarer Renner in der Region seiner Herkunft. Man hört es zigmal und kann trotzdem nicht aufhören, sich zu verhören.
Nennt wer wen Genossin, dann glauben zur Zeit viele, sich zu verhören: Den einen killert das Staubige im Ohr, wie bei der Anrede »Fräulein« oder »Knabe«. Sich mit Genosse anzureden, das ist etwas aus dem Mittelalter, so wie SED oder bezahlbare Mieten. Anderen, und das sind die, die sich auch als Genossinnen und Genossen verstehen, stößt eine faktische Rückständigkeit auf: Wenn sich heute Leute als Genossen auffassen, die an der Spitze der SPD stehen, also Sachen verbrechen, die jene, die sich als Genossinnen und Genossen im Sinne des russischen Begriffs »Tоварищи« (Towarischtschi) verstehen, also als Kampfgefährten, versuchen zu unterbinden und zu beseitigen.
Begriffe hegen ein und grenzen ab. Das althochdeutsche »ginōzo« ist vom Nutzvieh (»nōz«) hergeleitet und beschreibt den Konnex derer, die »mit anderen auf gleicher Weide (gemeinsames) Vieh« halten, weiß der Brockhaus. Zum Nutzen und Abgrenzen ging der Begriff des Genossen ins moderne Kollektivwissen ein, als er für Mitglieder gleicher, meist linker Partei Anwendung fand. Das (vor-)bürgerliche Recht aber kannte schon und kennt die Genossenschaft als (meist ökonomischen) Personenzusammenschluss. So oder so teilen Genossinnen und Genossen ein Interesse.
Es sich und allen so einzurichten, dass es schön ist, ist das Interesse der Kommunisten – »Tote auf Urlaub«, wie Eugene Leviné sagte, deren Jenseitsverdrossenheit soweit gereift ist, dass sie zusammen nicht nur Zuflucht vor dem Tohuwabohu da draußen suchen und kurz verschnaufen, sondern nach dem Manifest der Partei jene »wirkliche Bewegung« darstellen, »welche den jetzigen Zustand aufhebt«, also gleichsam erhält, abschafft und weiterqualifiziert.
Zum Begriff gehören aber auch die Schindluder, die mit ihm getrieben werden. Es gibt Genossenorganisationen, die mit dem Ziel gebrochen haben: Parteien, die Gerhard »Genosse der Bosse« Schröder gebären, haben aufgehört, die Welt erträglicher zu machen. Andere hatten das Ziel nie: Der von einer gleich mehrmals mit ihrem Titel (verw)irrenden »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« propagierte Volksgenosse war eben einer, der sich die Scholle der »Volksgemeinschaft« mit anderen zu teilen habe. Beseitigt werden sollte aber nicht, in wohlgemerkt pervers ungleichem Maße der Not ausgesetzt zu sein. Die Abschaffung der Armut für alle nahm man statt dessen jenen übel, die sie mit Klassenkampf erreichen wollten, und verschrie, wieder sprachlich im Irrtum begriffen, in Knästen und KZ internierte Kommunistinnen und Kommunisten abgrenzend als »Parteigenossen«, als wäre das eine Beleidigung. Statt dessen versuchte man das klassenmäßige Interesse, das zwangsläufig zwei haben, die sich einen Flecken teilen, auf dem sie ihr Vieh ernähren, in rassistischer Tünche zu ertränken. Den Faschisten ihr Genosse ist auch der Boss, der vom Kruppstahlschmieden zum Panzerbau profitiert, der Arbeiter Abraham oder die Bäuerin der Donebene aber sind es nicht und den Nazis nichts wert, was über ein Sklavendasein hinausgeht, wenn überhaupt.
Sich Genossinnen und Genossen zu suchen, heißt also auch, nach jenen Ausschau zu halten, die es mit dem Begriff ernst meinen.