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Den Staat neu denken: Corona und die Krise der Demokratie

Den Staat neu denken: Corona und die Krise der Demokratie

23.01.2022 13:10

Den Staat neu denken: Corona und die Krise der Demokratie

Januar 2022
Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Januar 2022. Klicken Sie hier, um zur Inhaltsübersicht dieser Ausgabe zu gelangen.
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von Felix Heidenreich
IMAGO / Jan Huebner
Bild: IMAGO / Jan Huebner
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Den Staat neu denken: Corona und die Krise der Demokratie
von Felix Heidenreich
IMAGO / Jan Huebner
Bild: IMAGO / Jan Huebner

Nicht nur der mehr als holprige Start der neuen Regierung in Deutschland, auch die Debatten in anderen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich, machen deutlich, dass sich das Staatshandeln in Europa in einer tiefen Transformation befindet. Die Coronakrise, der Druck der klimapolitischen Anpassungen, die Einsicht in die Sackgassen der klassischen Sozialpolitik und die Krise des Rechtsstaats zwingen zu einer grundlegenden Reflexion über die Rolle des Staates. Gesucht wird eine Staatlichkeit, die sich auf der Höhe der historischen Herausforderungen befindet. Im Winter 2021/2022 scheint dieser Staat, zumindest in Deutschland, in weiter Ferne zu liegen.

Zeichnet man ein Bild mit sehr breiten Pinseln, so lassen sich drei historisch verortbare Idealtypen unterscheiden. Am Anfang europäischer Staatlichkeit steht der hierarchisch strukturierte, in Frankreich nach dem Vorbild der katholischen Kirche entwickelte Obrigkeitsstaat. Zu seinen Schlüsselbegriffen gehören Vokabeln wie „Souveränität“ oder „Regierung“ (gouvernement). Michel Foucault nannte diese Konstellation aus symbolischer Repräsentation, staatslegitimierenden Narrativen und erziehenden Praktiken in seinen späten Vorlesungen die „juridische Gouvernementalität“. Dieser „Staat 1.0“ operiert in Befehlsketten, Verwaltungsbescheiden und Institutionen der Disziplinierung. Paradigmatisch anschaulich wurde der Staat in seinem Militär, in Aufmärschen und Siegesparaden. Eine Staatsspitze – so zumindest die Imagination – überblickt und regiert ein Land.

Wenn wir die Perversion des totalitären Führerstaates beiseitelassen, so wäre als „Staat 2.0“ so etwas wie die diskursiv eingebettete Governance-Struktur des Wohlfahrtsstaates zu beschreiben. Dieser Staat hat Vorläufer im 19. Jahrhundert und erblüht spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier denkt man in den Kategorien des Marktes, des Wachstums und Gleichgewichts. Nicht die autoritäre Disziplinierung, sondern die „freie Entfaltung“ steht hier im Zentrum. Foucault akzentuierte in seinen späten Vorlesungen zum Neoliberalismus die Bedeutung ökonomischer Theorien für dieses Staatsverständnis. Speziell der Ordoliberalismus kontinentaleuropäischer Prägung versucht, die Gesellschaft erblühen zu lassen, ohne sie top-down zu disziplinieren. Dieser „Staat 2.0“ arbeitet nicht nur korporatistisch, sondern auch kooperativ; er bindet die Zivilgesellschaft ein, betreibt Fürsorge und legitimiert sich nicht durch Autorität, sondern durch den Wohlstand, den er den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht.[1] Diese Form von Staatlichkeit dominierte die Welt von Helmut Kohl und François Mitterrand. Viele, und zwar links wie rechts, sehnen sich auch heute noch zurück in diese Welt der „Trente Glorieuses“. Doch der „Staat 2.0“ hat große Defizite bei der Antizipation von Risiken und reagiert träge. Klimapolitisch hat er schlicht versagt. Seit seinem Klassiker über die „Risikogesellschaft“ versuchte speziell Ulrich Beck zu zeigen, dass Staatlichkeit endlich die nicht-intendierten Nebenwirkungen und langfristigen Folgen der Modernisierung berücksichtigen muss. Das war wohlgemerkt bereits 1986.



Die Idee der kooperativen, zugleich aber die Verantwortung diffundierenden Governance erscheint heute eher als Weg in eine postdemokratische Alternativlosigkeit, in der Wahlen keinen Unterschied machen (elections without choice). Selbst eine enorm hohe Staatsquote, so muss man feststellen, kann die soziale Ungleichheit bestenfalls abmildern, aber eben nicht erfolgreich überwinden – und schon gar nicht kommende Gefahren vorausschauend in den Blick nehmen. Der „Staat 2.0“ operiert reaktiv-verwaltend, nicht proaktiv-antizipierend. Auf akute Krisen wie eine Pandemie reagiert er viel zu langsam und der erfolgreiche Aufbau von Resilienzstrukturen, die die Folgen des Klimawandels zumindest abfedern, ist von ihm nicht zu erwarten.

Die Entstehung einer neuen europäischen Staatlichkeit
Was nun entstehen könnte, weil es entstehen müsste – und vielerorts tatsächlich schon in Ansätzen entsteht –, ist eine europäische „Staatlichkeit 3.0“. Diese hat anders akzentuierte normative Parameter, eine andere normative Grammatik. Diese Transformation hat nicht nur mit der Evolution des Staatsbegriffs zu tun, sondern auch und wesentlich mit den kulturellen und ökonomischen Vergleichsgrößen.

Staatshandeln muss sich heute in einem Umfeld rechtfertigen, in dem extrem dynamische Unternehmen eine atemberaubende Geschwindigkeit vorgeben und bezüglich Agilität und Innovationskraft völlig neue Standards setzen. Bürgerinnen und Bürger vergleichen ihren Staat mit Unternehmen wie Apple und Tesla – und sind entsetzt über die Schlafmützigkeit, mit der sie regiert werden. Lebensweltlich prallen der Perfektionismus und die Innovationsdynamik einer ökonomischen Lebenssphäre auf den Operationsmodus einer primär als Verwaltung agierenden Politik. Die Jahreslohnsteuererklärung liegt hier neben der Apple Watch 7 wie die Vergangenheit neben der Zukunft.

Unwillkürlich taucht damit die Frage auf: Wie hätte ein Steve Jobs oder ein Bill Gates die Pandemie gemanagt? Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, könnte man auf eine Anekdote verweisen. In einer Besprechung der Firma Apple kam man zu dem Ergebnis, dass jemand in China gebraucht würde, um ein dortiges Problem zu lösen. Angeblich soll daraufhin Tim Cook zum Produktionsmanager Sabih Khan gesagt haben: „Why are you still here?“. Dieser stand auf und fuhr direkt zum Flughafen, um den nächstmöglichen Flug nach China zu nehmen. Die Worte „sofort“ und „unverzüglich“ sind in der Welt der Tech-Giganten wortwörtlich zu nehmen, so dürfen wir folgern. In jedem Parlament oder Kabinett hätte man eine Arbeitsgruppe gebildet. Und spätestens mit dem Beginn der 4. Pandemiewelle im Herbst 2021 wurde deutlich, wie fatal, ja für manche letal dieser Unterschied ist.

Blätter-Jubiläumsabo

Gewiss, derartige Selbstmythisierung des Silicon Valley sollte man nicht für bare Münze nehmen, aber sie definieren den Resonanzraum, in dem sich Staatlichkeit heute darstellen muss. Und doch kann die heute erforderliche „Staatlichkeit 3.0“ nicht in der bloßen Neuauflage einer neoliberalen Staatskonzeption liegen, die vom „unternehmerischen Staat“ träumt. Das liegt vor allem daran, dass das Paradigma der Externalisierung von Kosten an ein Ende gekommen ist. Und im Gegensatz zu Unternehmen müssen Staaten die res publica im Auge haben.

Auch der „Staat 2.0“ produziert, genau wie sein Vorgänger, Wohlstand auf Kosten der Zukunft. Doch die näherrückenden Einschläge des Klimawandels erweisen diese Strategie als fatal. Schnelles Handeln ist hier gerade zugunsten eines effektiven Klimaschutzes gefragt. Das hat immense Folgerungen: Der „Staat 2.0“ konnte das BIP und dessen Steigerung noch als Indikator für Wohlstand nehmen; im „Staat 3.0“ wird die Reflexion von Komplexität gefordert: „Wohlstand“ ist neu zu definieren.

Nun sind diese drei Idealtypen – es wurde bereits gesagt – grobe Vereinfachungen. Sie sollen eine heuristische Funktion erfüllen, keine historischen Thesen behaupten, die ausführlich belegt werden müssten. Zudem ist zu bedenken, dass neue Modelle alte nicht einfach ablösen, sondern diese überlagern. Siehe Frankreich: Noch immer findet am 14. Juli in Paris eine Militärparade statt. Und noch immer überwiegen jene Politiker*innen, die sich zum Wirtschaftswachstum gratulieren, ohne dabei zu thematisieren, was da wie genau wächst. Die Versionen 1.0 und 2.0 moderner Staatlichkeit existieren also weiter. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass eine neue Idee von Staatlichkeit sich über alte normative Erwartungen schiebt. An drei Dimensionen lässt sich dies paradigmatisch zeigen – nämlich am Präventionsstaat 3.0, am Sozialstaat 3.0 und am Rechtsstaat 3.0.

Institutionalisierte Antizipationskompetenz – der Präventionsstaat 3.0
Zu den bleibenden Demütigungen der Corona-Pandemie gehört der Umstand, dass ein Unternehmer und Milliardär, nämlich Bill Gates, das Szenario einer globalen Pandemie detailgetreu voraussah, während die staatlichen Institutionen in fast allen klassischen Demokratien als träge, unwillig oder schlicht vollkommen inkompetent erschienen. Auch in Deutschland diskutierte man zum Jahreswechsel 2019/2020 noch ausführlich die Frage eines möglichen neuen CDU-Vorsitzenden, während Expert*innen längst Alarm schlugen. Hektische Grenzschließungen in der EU, eine chaotische Suche nach Schutzkleidung und Masken und eine zeitraubende und von Partikularinteressen verzerrte Willensbildung in der Ministerpräsidentenkonferenz rundeten das Bild vom überforderten Staat ab. Und im vergangenen Sommer wiederholte sich das Desaster, indem jede Kleinigkeit im Wahlkampf diskutiert, aber die dringende Warnung der Wissenschaft vor der aufziehenden vierten Welle in den Wind geschlagen wurde – mit der Konsequenz heillos überforderter Krankenhäuser und der Wahrscheinlichkeit eines erneuten bundesweiten Lockdowns.

In Deutschland wurde so das Selbstbild vom hochtechnisierten Exportweltmeister hart mit einer Realität konfrontiert, in der die Gesundheitsämter teilweise noch mit Faxgeräten aus den 1990er Jahren arbeiten und die digitale Seuchenbekämpfung qualitativ weit hinter den Vorbildern aus Taiwan oder Südkorea zurückbleibt. Nach der Immobilienkrise, der Staatsschulden- und Eurokrise und der sogenannten Migrationskrise zeigte sich der Staat damit erneut überrascht von Problemen, die man eigentlich hätte kommen sehen können, ja müssen, zumal es auch in Deutschland dezidierte Planspiele für den Fall einer Pandemie gegeben hat.[2] Doch im Augenblick ihres tatsächlichen Geschehens erwies sich die Regierung als heillos überfordert. Die Flutkatastrophe vom vergangenen Sommer setzte in Deutschland nur den letzten Strich an dieses große Bild von einem Staat, der nicht mehr wie ein Leviathan über der Landschaft thront, sondern wie ein überforderter Feuerwehrmann von Brandstelle zu Brandstelle eilt, aber dabei immer zu spät kommt. An der Ahr und in Nordrhein-Westfalen versagten die basalen Formen des Katastrophenschutzes. Aber auch hier dürfte das Versagen von Einzelpersonen das Systemversagen zwar verstärkt, aber nicht kausal verursacht haben. Man muss insofern befürchten, dass die apokalyptischen Bilder verwüsteter Dörfer kommende Auswirkungen des Klimawandels präfigurieren.

Von der Präsens- zur Zukunftsorientierung
Im Herbst 2021, nach der geschlagenen Bundestagswahl, zeigte die Ära Merkel dann noch einmal jene Kombination aus Phantasielosigkeit, Desinteresse und organisierter Verantwortungslosigkeit, die auch schon zuvor stilprägend war: Fast schien es, als würde Deutschland gar nicht mehr regiert. Und dies, obwohl die Expert*innen bis zum Überdruss vor den Folgen der Pandemie gewarnt hatten. Merkels Devise, sich um die Probleme immer erst dann zu kümmern, wenn sie eingetreten sind, erwies sich endgültig als hanebüchen.

Aus dieser Erfahrung ergibt sich das Anforderungsprofil für einen „Staat 3.0“. Dieser kann sich nicht mehr damit begnügen, bestehende Probleme zu verwalten. Er muss kommende Probleme antizipieren. Dies aber verlangt ganz andere Instrumente institutionalisierter Risikowahrnehmung. Nicht mehr überrascht zu werden, die Anzahl der „unknown unknowns“ zu minimieren, setzt voraus, dass man den Problemhorizont der Klimaforschung oder der Fridays-for-Future-Bewegung übernimmt, also bis zum Ende des Jahrhunderts denkt.[3]

Derartige Mechanismen leisten nichts anderes als eine Anwendung des Prinzips der Nachhaltigkeit auf verschiedene Politikfelder. Der Staat 2.0 jubilierte, wenn die Indikatoren im Präsens Anlass dazu gaben, vor allem das Wirtschaftswachstum und die Arbeitslosenzahlen: „Es geht uns (jetzt!) gut!“ Darin drückte sich die Gegenwartsorientierung des Staates 2.0 aus. Von dieser Präsensfixierung hat sich der Staat 3.0 emanzipiert. Hier wird gefragt, ob das, was man da tut, überhaupt langfristig „möglich“, also „nachhaltig“ ist. In diesem Sinne hat sich unser Staatsverständnis teilweise bereits fundamental gewandelt.

Dieser Wandel lässt sich wohl am deutlichsten an der historischen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2021 ablesen, das den Bundestag zu einer Reform des Klimaschutzgesetzes gezwungen hat.[4] Dessen ausführliche Begründung zeigt einen Staat, der unter Verweis auf die aktuelle Forschungslage so etwas wie „Fernverantwortung“ wahrnimmt: Verantwortung für räumlich und zeitlich fern liegende „Rechtsträger“, also Menschen. So etwas kennt der Staat 2.0 nicht, in dem die „Daseinsvorsorge“ stets die Gegenwart betrifft. Der Staat 3.0 kann sich somit weder darauf beschränken, eine Bevölkerung zu „regieren“ (Staat 1.0) oder eine Gesellschaft in einer liberalen Rahmenordnung „gedeihen“ zu lassen (Staat 2.0). Er muss – bezüglich Klima, Energie, Migration, Pandemien, Industriepolitik – langfristige Strategien verfolgen. Damit kehrt die klassische Idee einer res publica zurück: Der Staat 3.0 verabschiedet auch das neoliberale Paradigma einer maximalen Privatisierung.

Im Vergleich zu dieser Staatlichkeit 3.0 wirkt der Staat 2.0 im Wortsinn „planlos“: Er brauchte keinen Plan, weil Marktgleichgewichte die beste Lösung durch evolutionäre Prozesse hervorbringen sollten. Darauf darf der Staat 3.0 nicht mehr hoffen: Klimaneutralität schafft kein Markt alleine. Selbst Liberale pochen daher auf eine Industriepolitik, die Innovationsfähigkeit nicht nur ermöglicht und erlaubt, sondern aktiv fördert, beispielsweise durch eine Digitalisierungspolitik. In seiner Zeitorientierung unterscheidet sich der Staat 3.0 also nicht nur durch eine höhere Dynamik, sondern vor allem durch einen größeren Zeithorizont. Der Staat 1.0 legitimierte sich durch Herkunft, Sicherheit, Tradition, Vergangenheit; der Staat 2.0 durch Gegenwart, direkt erlebbares Wachstum, den Wohlstand im Jetzt. Vom Staat 3.0 werden nun Antworten darauf erwartet, wie die langfristige Zukunft einer Gesellschaft gewährleistet werden kann. Er braucht dafür nicht nur ein Statistisches Bundesamt, welches die Gegenwart gewissermaßen „abfotografiert“, sondern Institutionen, die Szenarien der Zukunft entwickeln – in allen Bereichen. Nicht (erneut) überrascht zu sein, wäre dann schon ein Erfolg.

Ähnlich fundamental lässt sich der Wandel unseres Staatsbildes bezogen auf die Sozialpolitik fassen. Selbst eine enorm hohe Staatsquote kann in Ländern wie Frankreich oder Deutschland an der Vermögensungleichheit nichts Fundamentales ändern. Das Paradigma eines bloß Konsummittel umverteilenden Staates scheint erschöpft. Das war der Grund, warum die Agenda 2010 der rot-grünen Regierung überhaupt durchgesetzt werden konnte, samt all ihrer brutalen Härten. Doch heute zieht man aus dieser Einsicht eine andere Konsequenz: Nicht mehr Einkommen, sondern Vermögen – und ihre immensen Unterschiede – stehen nun im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dafür haben nicht zuletzt die großen Studien von David Graeber und Thomas Piketty gesorgt.

Blätter-Probebabo

Teilhabe statt Almosen – der Sozialstaat 3.0
Der Sozialstaat 2.0 ist, das zeigt der Blick nach Deutschland und Frankreich, ganz offenbar nicht in der Lage, Menschen davor zu schützen, von der Hand in den Mund leben zu müssen. Man muss sich klarmachen, dass selbst im reichen Deutschland rund 30 Prozent der Bevölkerung über keinerlei Rücklagen verfügen und daher immer das Monatsende im Auge haben müssen. Sie sind nicht in der Lage, Sonderausgaben wie eine kaputte Waschmaschine aus einem Kapitalstock zu kompensieren. Der Staat 2.0 hat einen Sozialstaat hervorgebracht, der lediglich vor der Verelendung schützt, aber nicht erfolgreich der Kapitalakkumulation entgegenarbeitet, die sich durch die Bevorteilung leistungsloser Kapitaleinkünfte ergibt.

Das deutlichste Beispiel hierfür ist der Immobilienmarkt. Auch hier gleichen sich die Probleme in Kontinentaleuropa: Die sogenannte asset inflationhat dazu geführt, dass die Preise zumindest in den attraktiven Gegenden ins Unerträgliche gestiegen sind. Wenn der Staat 2.0 versucht, wie in Frankreich, diesen Trend durch die Bezuschussung von Mieten zu kompensieren, profitieren davon aber nur die Vermieter. Keine klassische Sozialpolitik kann diesen Trend wirklich umkehren.

Dies geht nur, wenn ein Staat 3.0 nicht nur Mindesteinkommen, sondern auch so etwas wie Mindestvermögen denkt. Dann geht es nicht mehr nur darum, Mieten in erträglicher Höhe festzufrieren („Mietpreisbremse“), sondern das Mieten (und Vermieten) insgesamt aus der Welt zu schaffen, indem man perspektivisch aus Mietern Eigentümern macht. Versteht man Wohnraum als Vorbedingung eines menschenwürdigen Lebens, so erweist er sich als Allmende-Gut, wie Luft oder Wasser.

Die strenge Regulierung dieses Marktes ist dann keine sachfremde Intervention in einen „freien Markt“ mehr, sondern die Sicherstellung von Grundgütern. Würde man in der Konsequenz dessen Miteinnahmen stark progressiv besteuern, würde das Berufsbild des Vermieters in Frage gestellt. Wenn der zehntausendste Euro, der durch Mieten eingenommen wird, mit 70 Prozent besteuert würde, müsste sich das Kapital andere, riskantere Anlageformen suchen. Denn auch dies gehört zur Wahrheit des Immobilienmarkts: Abertausende leben ausgesprochen gut davon, zu vermieten – beziehen also im Ergebnis leistungsloses Einkommen. Des einen Leid ist des anderen Freud.

Parallel zur progressiven Besteuerung von Mieteinnahmen ließe sich der Immobilienbesitz der Selbstnutzer fördern. Am Ende stünde eine Gesellschaft, in der die Bürgerinnen und Bürger nicht nur im metaphorischen Sinne von „my country“ sprechen könnten, sondern auch in einem wörtlichen Sinne: Sie wären dann stake-holder in einem viel stärkeren, wörtlichen Sinne. Die Rede von der ownership wäre dann keine hohle Phrase mehr. Vor diesem Hintergrund wäre es interessant zu erfahren, ob Mieter und Vermieter repräsentativ unter jenen 25 Prozent verteilt sind, die sich in der Bundestagswahl enthalten haben. Es wäre überraschend; denn wer besitzt, hat an etwas Anteil, fühlt sich damit zugehörig und beteiligt sich damit auch an der Wahl.

Wie eine solche „Staatlichkeit 3.0“ aussehen kann, die die Bürgerinnen und Bürger nicht nur kompensativ beteiligt, sondern zu Miteigentümern an Produktionsmitteln macht, lässt sich an Norwegen beobachten. Hier liegt die Sondersituation eines Staates vor, der nicht Schulden hat, sondern Investitionsmittel vergibt. Der aus dem Nordsee-Öl finanzierte Staatsfonds macht bekanntlich alle norwegischen Staatsbürger*innen rechnerisch zu Dollarmillionären. Für das Demokratie- und Staatsverständnis aber wichtiger ist, dass er sie auch zu Teilhabern macht.

Auch wenn dieser Sonderfall schon aus ökologischen Gründen nicht verallgemeinerbar ist, bleibt ein Aspekt daran doch bedeutsam: In Norwegen ist das Machtverhältnis zwischen Staat und Kapitalmarkt umgedreht. Nicht der Staat reagiert hier auf die Forderung des Marktes, indem er „attraktive Investitionsbedingungen“ schafft, sondern die Firmen können vom Staat unter Druck gesetzt werden. Eine solche „Staatlichkeit 3.0“ konterkariert den Neofeudalismus der neoliberalen „Staatlichkeit 2.0“ und überwindet zugleich das Modell des bloß kompensierenden Sozialstaats.

Jenseits der strukturellen Überforderung – der Rechtsstaat 3.0
Zu den erschreckenden Einsichten, zu denen die Corona-Pandemie zwingt, gehört nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Rechtsdurchsetzung in manchen Teilen schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu werden droht: Bei Einführung einer allgemeinen Impfpflicht, so war zu hören, könnten Teile Sachsens regelrecht unregierbar werden.

Ein derart verfestigtes Misstrauen gegenüber dem Staat ist keineswegs ein rein ostdeutsches Problem. Auch in den liberalen Niederlanden kam es Ende November 2021 zu tagelangen Ausschreitungen. In Rotterdam sahen sich Beamte sogar gezwungen, auf Personen zu schießen, nachdem sie angegriffen worden waren. Es ist dieses abgrundtiefe Misstrauen bis hin zu blankem Hass, die den Rechtsstaat zunehmend als strukturell überfordert zeigen.

Die „Blaulichtfraktion“ (Polizei, Sanitäter, Feuerwehr) wird mittlerweile in fast allen europäischen Staaten massiv angefeindet. In Niedersachsen etwa gehören Stichwesten nun offenbar zur Standardausrüstung von Sanitätern. Kein Krankenhaus kann heute noch eine Notaufnahme ohne Sicherheitspersonal betreiben. Und zugleich mehren sich die Stimmen, die eine unzureichende Kontrolle von Polizeigewalt kritisieren. Nicht nur in Deutschland, und keineswegs nur in Hessen und Sachsen, reißen die Skandale um rechtsextreme Umtriebe in der Polizei nicht ab.

Das alles sind Anzeichen einer tiefen strukturellen Krise unseres realexistierenden „Rechtsstaats 2.0“. Selbst in der Debatte über die Legalisierung von Cannabis zeigte sich, dass nicht etwa nach dem normativ Gewünschten, sondern primär nach dem praktisch Möglichen gefragt wurde: Wir haben die Kontrolle ohnehin verloren, so war aus Polizeikreisen zu hören, warum also sich noch verkämpfen in einer Schlacht, die längst entschieden ist – und deren Sinnhaftigkeit zudem bezweifelt wird.

Der Staat sortiert seine Prioritäten also derzeit neu – und unterschiedliche Akteure machen unterschiedliche Angebote. Eine autoritäre Wiederherstellung von „Staatlichkeit 1.0“, die in manchen, zunehmend in den Zustand der Anarchie übergehenden Vororten Frankreichs auf der Agenda steht, scheint vor allem für Populisten verlockend, aber im Ergebnis wenig aussichtsreich. Der autoritäre Staat 1.0 tritt hier in Form der Polizei auf, der träge Staat 2.0 in Form langsamer Gerichte und nachsorgender Sozialarbeit. More of the same, einfach immer mehr vom selben – noch mehr Polizisten, noch mehr Gefängnisse –, scheint jedoch wenig erfolgversprechend. Regierbarkeit kann der Staat 3.0 weder autoritär gegen die Bürger*innen durchsetzen noch als bloßer Dienstleister für die Bürger*innen. Er ist weder ein Leviathan noch ein Pizzadienst, der nach Belieben „liefern“ soll. Der erforderliche Staat 3.0 muss daher ein völlig neues Rollenmuster entwickeln, und zwar in kürzester Zeit.

Die Corona-Pandemie hat immerhin gezeigt, dass eine Staatlichkeit 3.0 viel stärker in Interdependenzen denken muss. Kommunikation und Vertrauen sind dabei Schlüsseldimensionen. Es war nicht zuletzt die Kakophonie sich widersprechender und hektisch revidierter Aussagen, die das Verhältnis zwischen Staat und Bürger*innen nachhaltig gestört hat.

Die für eine zukunftsfähige Staatlichkeit entscheidende Kompetenz – das hat das Versagen in der Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit gezeigt – ist jedoch die Antizipation noch fernliegender, aber bereits absehbarer Probleme und die frühe und überzeugende Ansprache der Bürger*innen. Die langfristigen Auswirkungen der beschämend schlechten Performance demokratischer Staaten in der Coronakrise sind derzeit noch schwer absehbar. Es steht jedoch zu befürchten, dass im Zuge der sich dramatisch auftürmenden vierten Welle der Pandemie das ohnehin weit verbreitete Misstrauen gegen „die Politik“ noch weiter zunehmen wird. Das aber wäre nicht zuletzt deshalb fatal, weil die Jahrhundertherausforderung einer erfolgreichen Klimapolitik noch weit mehr eine nicht nur funktionierende, sondern vor allem auch eine akzeptierte und als legitim anerkannte Form von Staatlichkeit voraussetzt. In diesem Sinne geht es heute nicht nur darum, eine bessere, sondern auch eine andere, staatlicherseits weit vorausschauende Politik zu betreiben.

[1] Vgl. meinen Beitrag „Ökonomismus – eine Selbstgefährdung der Demokratie? Über Legitimation durch Wohlstand“, in: André Brodocz, Marcus Llanque und Gary S. Schaal (Hg.), Gefährdungen der Demokratie, Wiesbaden 2008, S. 370-385.

[2] Wolfram Geier, Für eine nachhaltige Risikokultur: Corona als Chance, in: „Blätter“, 5/2020, S. 29-32; Günther Bachmann, Exit ist nicht genug: Warum Nach-Corona nicht Vor-Corona sein darf, in: „Blätter“, 5/2020, S. 65-70.

[3] Wie dies bspw. in der Wissenschaft aussieht, zeigt paradigmatisch das Modellierungstool EN-Roads, www.climateinteractive.org/tools/en-roads.

[4] Vgl. den Beschluss des Ersten Senats vom 24.3.2021 unter www.bundesverfassungsgericht.de.

Themen: Demokratie, Sozialpolitik, Ökologie
Aus: »Blätter« 1/2022, S. 97-104

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  • Erstellt von max hoelz In der Kategorie Gesellschaft am 23.01.2022 13:10:00 Uhr

    zuletzt bearbeitet: 23.01.2022 13:11
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