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Überzeugung statt Empörung Perspektiven für eine progressive Linke von Horst Kahrs, Klaus Ledere

Überzeugung statt Empörung Perspektiven für eine progressive Linke von Horst Kahrs, Klaus Ledere

02.06.2022 16:12

Überzeugung statt Empörung
Perspektiven für eine progressive Linke
von Horst Kahrs, Klaus Lederer

Themen: Parteien, Kapitalismus
Aus: »Blätter« 6/2022, S. 103-112
https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/jun...V11DUuTD7QEcGZw


Überzeugung statt Empörung
Perspektiven für eine progressive Linke
von Horst Kahrs, Klaus Lederer


Das desaströse Abschneiden der Linkspartei bei den jüngsten Wahlen wirft die Frage auf, ob gut dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung eine Partei links von SPD und Grünen überhaupt noch einen eigenständigen Platz im politischen System Deutschlands einnehmen kann. Betrachtet man nur den zwischen weiterer Selbstzerstörung und bangem Stillhalten pendelnden innerparteilichen Zustand, spricht einiges für ein entschiedenes „Nein“. Der Linken ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, bei zentralen Themen, die die öffentliche Wahrnehmung bestimmten, als Partei mit überzeugender linker Haltung erkennbar zu sein. Es gelang nicht, in der Migrationsfrage mit (durchaus vorhandenen) progressiven Konzepten einer linken Migrationspolitik zu punkten – in dem Spannungsverhältnis zwischen dem Menschenrecht auf Mobilität einerseits und dem stets begrenzten Zugang zu bestehenden Solidargemeinschaften andererseits. Stattdessen offenbarte sich die Zerrissenheit zwischen auch „von links“ geschürten Ängsten seit den großen Fluchtbewegungen von 2015 und der abstrakten Forderung nach bedingungslos offenen Grenzen für alle weltweit. Im Kontext der globalen Corona-Pandemie war beim Umgang mit einer autoritären, in Teilen faschistoiden sozialen Protestbewegung ebenfalls nicht erkennbar, wofür linke Politik „zwischen Lockdown und Freedom-Day“ eigentlich steht und wie mit einem progressiven Freiheitsverständnis der Schutz besonders gefährdeter Gruppen von Menschen in den Fokus gerückt und die Verantwortung für diesen Schutz vergesellschaftet werden kann. Schließlich gelang nicht einmal die klare Abgrenzung von manchen Parolen des verschwörungsgläubigen Milieus, etwa in der ohnehin schwierigen Impfpflicht-Debatte, weil Teile der Partei in stiller Komplizenschaft mit Teilen dieser Milieus glaubten, aus dieser Empörung „von rechts“ politisch Kapital schlagen zu können.

Das Hochhalten sehr abstrakter, unterkomplexer friedenspolitischer Grundsätze und die daraus abgeleitete prinzipielle Ablehnung des Einsatzes des deutschen Militärs wurde spätestens dann zum Fallstrick, als es im August 2021 um die dringliche Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan ging. Es ist nicht falsch, darauf zu verweisen, dass die desaströse Lage für diese Menschen zuallererst durch den Einsatz von Militär geschaffen worden war. Es mag zwar sein, dass Die Linke mit ihrer mehrheitlichen Enthaltung zu diesem Bundeswehreinsatz im Bundestag aus der Binnenperspektive betrachtet schon einen großen Schritt vollzogen hat. Dies war aber sehr leicht als unsolidarisch denunzier- und letztlich kaum vermittelbar, weil sie den ohnehin latent bestehenden Eindruck verstärkt hat, der Partei seien ihre Prinzipien im Zweifel wichtiger als die konkrete Hilfe für Menschen in größter Not. Diese fatale Haltung setzt sich gegenwärtig fort in der Ukraine-Krise – bei der Unfähigkeit im Umgang mit dem tragischen Dilemma, einerseits das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung gegen den völkerrechtswidrigen russischen Überfall anzuerkennen und zu befördern, ohne andererseits unverantwortlich an der Eskalationsspirale zu drehen. Dabei sticht ins Auge, dass es Teilen der Partei schwerfällt, von liebgewonnenen Freund-Feind-Bildern und fragwürdigen Kausalitätsmustern Abstand zu nehmen. Auch hier wird bislang jede Bemühung, der Komplexität des Geschehens mit Differenzierung und der Anerkennung von Dilemmata zu begegnen, mit dem Vorwurf gekontert, aus politischem Opportunismus einen Bruch mit dem friedenspolitischen Anspruch herbeiführen zu wollen. Öffentlich bleibt der Eindruck des „Victim-Blamings“ und der rhetorischen Nähe zu mancher Parole der Kreml-Propaganda hängen.

In all diesen zentralen Fragen fehlt es an einer von der gesamten Partei vertretenen konsistenten Position. Diese Inkonsistenz kommt keineswegs von ungefähr: Viel zu lange wurde politische Beliebigkeit und Unkenntlichkeit zugelassen, wurden unterschiedliche, zum Teil unvereinbare Positionen – darunter auch solche, die, zu Ende gedacht, dem linken Anspruch der Gleichheit aller Menschen sehr deutlich entgegenstehen – als „Pluralität“ schöngeredet. Viel zu wenig kümmert sich die Partei dagegen um das, was ihr programmatisches Kernanliegen sein sollte: auszuarbeiten und auszuformulieren, wie eine an sozialistischen Maßstäben ausgerichtete Politik tatsächlich zu besseren Lebensverhältnissen führen kann. Oder anders ausgedrückt: was unter dem Leitprinzip des demokratischen Sozialismus heute konkret zu verstehen ist. Dabei fehlt es der Partei nicht an klugen Konzepten auf diesem oder jenem zentralen Politikfeld. Unsere These ist: Es fehlt vielmehr an notwendiger Klarheit in der Haltung, mit der die Partei die realen Widersprüche der politischen Wirklichkeit bearbeiten will, anstatt sie mit ideologischen Grundsätzen stillzustellen.


Der demokratische Sozialismus als Leitprinzip
Ein zentraler Ankerpunkt linker Politik für eine bessere Zukunft muss darin bestehen, über demokratischen Sozialismus in politisch liberal-demokratisch und ökonomisch kapitalistisch verfassten Gesellschaften grundsätzlich nachzudenken. Seit dem Zusammenbruch der parteibürokratischen Diktaturen des Ostblocks 1989/90 hält sich – bemerkenswerterweise – in repräsentativen Umfragen hartnäckig die Auffassung, „dass heute sozialistische Werte von großer Bedeutung für den gesellschaftlichen Prozess sind“. In Deutschland teilen über die Generationen hinweg mit nur geringen Unterschieden 45 Prozent diese Auffassung. Gleichzeitig halten 49 Prozent den staatlich organisierten Sozialismus für ein System politischer Unterdrückung, Massenüberwachung und staatlichen Terrors.[1] Das Bild von der guten Idee, die schlecht verwirklicht wurde, lebt also unverdrossen fort – es findet aber keine Umsetzung in einem konsistenten Programm der Linkspartei.

Dabei spielte der „demokratische Sozialismus“ in Namen und Programm der Vorläuferpartei PDS durchaus eine prominente Rolle, wenn auch nicht für ihre politische Erfolgsgeschichte als ostdeutsche Regionalpartei. Als Anwältin der Anerkennung ostdeutscher Biographien vertrat die PDS in einer spezifischen historischen Konstellation die Interessen derjenigen Ostdeutschen, die mit den sozialen Folgen und der empfundenen Deklassierung nach der Einheit haderten, und gab ihnen eine Stimme. Vor 1960 geborene Frauen und Männer bildeten das Rückgrat des Parteilebens und der Wahlerfolge. Die 2004 gegründete WASG hingegen lebte vom Bruch der Mehrheitssozialdemokratie mit sozialstaatlichen Traditionen, sie erwuchs aus Enttäuschung, Verletzung und Wut über die Schrödersche Agenda-Politik. Sie hatte in Oskar Lafontaine einen populären Protagonisten und sollte durch äußeren Druck die SPD re-sozialdemokratisieren.

Die Allianz beider Gründungsimpulse bescherte der jungen Partei einerseits 2005 und 2009 große Wahlerfolge, erstmals konnte sich auch im Westen eine Partei links von Grünen und SPD behaupten. Gewählt wurde Die Linke bevorzugt von Männern, weniger von Frauen, der Generation der Baby-Boomer, deren soziale Position eng mit der Sozialstaatspolitik der alten Bundesrepublik verknüpft war. Andererseits überstrahlten die anfänglichen Erfolge die Achillesferse der Verbindung beider Gründungsimpulse: die demonstrative faktische Dominanz wohlvertrauter Ex-Sozialdemokrat*innen über die PDSler*innen als Erfolgsbedingung im größeren westdeutschen Elektorat. Die damit gesetzten innerparteilichen Machtkämpfe vergifteten früh das Klima für Analysen und Debatten über gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Deutungen. Zwischen 2010 und 2012 überschritten beide Impulse ihren Zenit. Seitdem wurden nur wenige Wahlen gewonnen, viele verloren. Neue außen- und gesellschaftspolitische Entwicklungen machten die programmatischen Dilemmata der Partei ebenso offensichtlich wie die Unwilligkeit, sie durch programmtisch-politische Weiterentwicklung zu bearbeiten. Gerade Themen wie „Migration“, „Klima“ und „Krieg“ stehen für komplexe Wirkungszusammenhänge. Die Antworten aber blieben seit Jahren dieselben, und nahezu jede produktive Debatte zur Deutung dieser Zusammenhänge wurde unter das Verdikt des Schleifens hergebrachter „Grundsätze“ gestellt und dadurch blockiert.

Die verlorene Saarland-Wahl als das Ende eines politischen Zyklus
Der Ausgang der Saarland-Wahl am 27. März dieses Jahres markiert insoweit das Ende eines politischen Zyklus: Nachdem Lafontaine 2005 aktiv dazu beigetragen hatte, eine SPD-Kanzlerschaft zu beenden, sorgte sein Austritt aus der Linken just vor der Saarland-Wahl maßgeblich dafür, dass mit Anke Rehlinger erstmals seit 1999 wieder eine Sozialdemokratin Ministerpräsidentin an der Saar werden konnte – und das sogar mit absoluter Mehrheit. Inzwischen ist ein erheblicher Teil der Lafontaine-Wählerschaft von 2005 und 2009, nun überwiegend verrentet oder rentennah, zur SPD zurückgekehrt. Resümierend bleibt festzustellen, dass weder im Westen noch im Osten die Bildung einer Stammwählerschaft gelungen ist, die die Partei verlässlich über die Sperrklausel trägt. Stattdessen wurde die Entfremdung zwischen der politischen Gründergeneration und nach 2012 zur Partei gestoßenen Mitgliedern und Anhänger*innen durch wechselseitige moralisierende Anwürfe verschärft.


Es gibt ein verbreitetes Unbehagen an den gegenwärtigen Zuständen
Aufstieg und Niedergang der Partei sind eng verknüpft mit der Strategie, sich wahlpolitisch vor allem von der Enttäuschung über andere Parteien, zunächst der SPD, dann der Grünen, zu nähren. Verfügt eine Partei aber nicht über eine ausreichende Zahl von Anhänger*innen, die ein eigenes politisches Anliegen dieser Partei erkennen und unterstützen, dann versinkt sie in immer erratischeren und plumper wirkenden Bemühungen, im Gestus der ständigen Empörung das „wahre“ Antlitz einer anderen Partei zu entlarven. Genau das ist die gegenwärtige Lage der Linkspartei: Sie kreist um sich selbst und stagniert innerhalb ihrer eigenen Widersprüche. Es schwinden ihre gesellschaftlichen Resonanzräume, sie verliert ihren Gebrauchswert und droht aus der Zeit zu fallen – und verspielt so die durchaus vorhandenen Chancen für eine aufgeklärte Linke.

Denn: Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bröselt die neoliberal inspirierte Hegemonie. Soziale Ungleichheit ist als gesellschaftspolitisches Problem in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt und droht zur Gefahr für die Stabilität der hiesigen demokratischen Verhältnisse zu werden. Wir sehen darin einen Resonanzboden für demokratisch-sozialistische Deutungen gesellschaftlicher Entwicklungen durch eine linke Partei. Wenn eine knappe Hälfte der Bevölkerung „sozialistischen Werten“ eine große Bedeutung zubilligt, dann spricht das zunächst für ein verbreitetes Unbehagen an den gegenwärtigen Zuständen. Kern dieses Unbehagens ist das Erleben einer alltäglichen wie einer globalen Welt, die den eigenen Vorstellungen, wie es sein könnte oder sollte, nicht gerecht wird.

Dieses Unbehagen hat verschiedene Dimensionen: Mal bezieht es sich auf den Gegensatz zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem Mangel anderer (oder umgekehrt), mal auf den Gegensatz zwischen dem, was man für ein richtiges Leben hält, und den in eigenen Lebensverhältnissen gegebenen Möglichkeiten, es leben zu können. In jedem Fall ist es ein politischer Rohstoff, der sich in unterschiedliche politische Richtungen formen lässt. Hier müsste linke, sozialistische (Partei-)Politik ansetzen.

Die Zustimmung zu sozialistischen Werten kann in ihrer Unbestimmtheit kaum als Bedürfnis nach einem bestimmten Gesellschaftssystem, wohl aber nach einem wirkmächtigen Regelwerk für das gesellschaftliche Zusammenleben und das staatliche Handeln verstanden werden: Gleichheit und Fairness, Selbstbestimmung und Demokratie, Kooperation und Solidarität. Diese Werte bilden den „Glutkern“ des Engagements in einer linken Partei und zugleich ihres Platzes in der Gesellschaft. Ihn gilt es wieder freizulegen, soll Die Linke eine Zukunft haben.

In einer Welt, in der sich die politischen Rahmenbedingungen auf globaler, europäischer und nationaler Ebene binnen eines guten Jahrzehnts radikal verändert haben, ist eine gründliche programmatische und strategische Erneuerung zwingend, um diesen „Glutkern“ als Kompass für Die Linke auf die Höhe der Zeit zu bringen. Das verlangt der Linkspartei (wie der Linken insgesamt) etwas ab, was kaum noch vorhanden scheint: die Lust an analytischer Debatte, bei der die „Wahrheit“ diskursiv erarbeitet wird, anstatt a priori festgelegt zu sein. Schon um eine solche Debatte zu organisieren, wird jedoch ein handlungsfähiges strategisches Zentrum gebraucht. Dessen erste Bewährung bestünde darin, die Partei auf einen strategischen Zeithorizont zu orientieren. Fest steht: Bei der Bundestagswahl 2025 geht es um das parlamentarische Überleben. Sich auf die Enttäuschung von Elektoraten anderer Parteien zu verlassen, ist keine Option. Das hat das desaströse Ergebnis von 2021 gezeigt. Bereits mit Blick auf die Wahl 2025 muss die Partei überzeugend die Bereitschaft ausstrahlen, Elemente sozialistischer Politik gestaltend umzusetzen. Möglicherweise könnte das 2029 dann auch praktisch gelingen.

Der Kampf um Gleichheit als Scheidelinie zwischen linker und rechter Politik
Beim Reden über einen neuen, demokratischen Sozialismus geht es zunächst um die Richtung, in die linke Politik strebt, um das Versprechen, das sie attraktiv macht, und um eine klare Haltung, aus der heraus nach Lösungen für die unterschiedlichsten Probleme gesucht wird. Eine Haltung, die sich nicht am Wünschenswerten orientiert, sondern daran, was tatsächlich möglich ist. Quelle sozialistischer Politik ist die schon bei Marx angelegte Erkenntnis, dass die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte Mangel und Herrschaft überflüssig machen könnte. Vor uns liegt eine Welt der Möglichkeiten, die für ein besseres Leben genutzt werden können. Es braucht daher eine Partei, die der Wirklichkeit den Spiegel des Möglichen vorhält, statt ständig angebliche Wahrheiten zu beschwören.

Der wesentliche Unterschied zwischen linker und rechter Politik, aus dem sich alles andere ergibt, ist dabei nicht „Gerechtigkeit“. Was gerecht ist, ist gesellschaftlich umkämpft, weil aus verschiedenen Ordnungsprinzipien ableitbar: dem Leistungsprinzip, dem Anrechtsprinzip, dem Bedarfsprinzip oder dem Gleichheitsprinzip. Wir halten dagegen „Gleichheit“ für die zentrale Scheidelinie. Linke Politik folgt einer horizontalen, egalitären Vision von Gesellschaft, rechte Politik dagegen einer vertikalen, hierarchischen. Gleichheit oder Ungleichheit der Rechte und Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, unabhängig oder abhängig von Stand, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Einkommen – das ist die Gretchenfrage. Wer dem Gleichheitsaxiom folgt, sieht die Grenzen der eigenen Freiheit in der Freiheit des/der Anderen, erkennt ihm*ihr das gleiche Recht auf Sicherheit und Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen, auf Emanzipation und Persönlichkeitsbildung zu. Variationen linker Politik entstehen aus je unterschiedlichen Verknüpfungen des Gleichheitsgrundsatzes mit dem Leistungsprinzip und/oder dem Bedarfsprinzip sowie (nicht nur historisch) aus dem territorialen Bezugsrahmen. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob dieser Anspruch auf den Nationalstaat bezogen oder prinzipiell universal gedacht wird. Vor dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen muss sich Ungleichheit legitimieren, vor denen, die von ihr negativ betroffen sind. Warum soll es gerecht oder zumindest hinzunehmen sein, dass die einen weniger Kontrolle und Selbstbestimmung über ihre Biographie haben (sollen) als die anderen?

Mangel ist grundsätzlich menschengemacht
Heute, im 21. Jahrhundert, ist Mangel angesichts des immensen technologischen Fortschritts grundsätzlich menschengemacht – aufgrund ungleicher Verteilung materieller Güter oder von Naturkatastrophen infolge der menschengemachten Erderwärmung. Sozialistische Politik in „reichen“ Gesellschaften ist daher mehr als Verteilungspolitik zugunsten der „einfachen Leute“. Beim heutigen Stand der Produktivkräfte geht es natürlich weiterhin um die Befreiung von materieller Not, aber auch um ein gutes Leben, die „nichtmateriellen“ Bedürfnisse, um Emanzipation von der kapitalismusimmanenten abstrakten Herrschaft. Sozialistische Politik im 21. Jahrhundert kennt daher eine doppelte Herausforderung – die ungleiche Verteilung von Reichtum bzw. Mangel und die ungleiche Verteilung der planetarisch begrenzten Ressourcen. Was aber folgt aus dem gleichen Recht auf Suche nach einem besseren, glücklicheren Leben? Was folgt – national zwischen Arm und Reich und global zwischen „armen“ und „reichen“ Regionen – aus dem globalen Recht aller auf den gleichen CO2-Abdruck, wenn die planetarischen Ressourcen heute schon übernutzt sind? Und schließlich: Was folgt aus der offensichtlichen Unfähigkeit der Staatengemeinschaft und ihrer Institutionen zur notwendigen Kooperation bei der Lösung dieser Menschheitsfragen?

Fest steht: An der globalen Ungleichheit der Lebensverhältnisse wie an der – auch kriegerischen – Herausbildung einer neuen, weniger auf Kooperation gerichteten Weltordnung kann heute niemand mehr vorbeischauen. Sie sind auf Jahre hinaus Nährboden für Hoffnungslosigkeit, Nationalismus, Festungsmentalität, Autoritarismus und faschistische Bewegungen. Deshalb ist der Kampf gegen die wachsende globale Ungleichheit der Kern jeder linken Politik.

Der Erhalt der planetarischen Lebensgrundlagen ist aus dieser Perspektive kein Luxus, den man sich leisten können muss, sondern der Imperativ eines linken Freiheitsverständnisses, das auch die nachfolgenden Generationen einschließt. Es versteht sich von selbst, dass diese Prämisse global zu denken ist, obgleich die politische Arena nach wie vor zuallererst eine nationalstaatliche bzw. europäische bleibt. Wie aber verbinden wir die Notwendigkeit eines globalen und lokalen Umsteuerns, die Etablierung einer anderen Art des Wachstums, das nicht durch die Kapitalakkumulation getrieben wird, mit der Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen all derjenigen, die auf Lohnarbeit als Einkommensquelle angewiesen sind?

Diese Verbindung der globalen Herausforderung mit den lokalen Bedürfnissen herzustellen, ist die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Die Rekonstruktion einer Partei links von der SPD wird daher nur gelingen, wenn sie ihre universalistische Grundhaltung mit alltagspraktischen Handlungsorientierungen verbinden kann, wenn sie als lokal und regional handelnde und gleichwohl global orientierte Partei erlebbar ist und so als Ansprechpartnerin für transnational Agierende attraktiv wird – als eine Partei, die Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten offen bearbeitet, anstatt sie einseitig aufzulösen.


Ohne Selbstbestimmung und Demokratie keine Freiheit
Die Abwesenheit von Mangel ist wiederum eng verbunden mit Selbstbestimmung und Demokratie, denn sie bedeutet auch Abwesenheit von existenzieller Abhängigkeit und damit die Freiheit, zu einem vertretbaren Preis „Nein“ sagen zu können. Wesentliche Garanten dieser Freiheit sind Arbeits- und Tarifrecht, betriebliche Mitbestimmung und sozialstaatliche Sicherheiten. Um sich aber als Gleiche*r an allen demokratischen Entscheidungen beteiligen zu können, ist mehr notwendig: freie Zeit, Information, Respekt als „gleiche*r Ungleiche*r“, die*der anders spricht, sich anders ernährt, andere Gewohnheiten hat, deren*dessen Beteiligung aber unverzichtbar ist, wenn über Dinge entschieden wird, die ihre*seine eigenen Lebensbedingungen betreffen. Die Frage, die linke Politik zu stellen hat, lautet daher, ob alles getan worden ist, damit gleicher Zugang, gleiches Gehör, gleiche Teilhabe möglich sind.

Auf dem Feld der Demokratie in einer Gesellschaft ohne Mangel steht linke Politik vor drei komplexen Themen: dem Thema der freien Zeit in einer flexiblen Arbeitswelt, die „rund um die Uhr“ läuft, dem Thema der materiellen Absicherung, also eigentumsähnlicher sozialstaatlicher Sicherheiten, um Entscheidungen treffen zu können, die ggf. auch den Interessen des eigenen Arbeitgebers zuwider laufen, und dem Thema der institutionellen Voraussetzungen, des Zugangs zu Institutionen, Informationen und Wissen, aber auch den Strukturen einer demokratischen Öffentlichkeit.

Wer darauf angewiesen ist, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, unterwirft begrenzte Lebenszeit fremdem Kommando. Kapitalismus bedeutet, über fremde Arbeit kommandieren zu können – und daher auch über maßgebliche Aspekte der Lebensführung bei denjenigen, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deshalb ist dem Kapitalismus eine Tendenz zum Autoritarismus eigen, nicht zur Demokratisierung.

Das unverstellte Eintreten für demokratische Regelwerke und die Verteidigung liberal-demokratischer Errungenschaften gegen autoritäre Tendenzen ist deshalb eine entscheidende Säule sozialistischer Politik, die sich aus dem Prinzip der Gleichheit ergibt. Wenn aber die Unterschiedlichkeit von Menschen und ihren Lebensentwürfen, die Diversität in der Gesellschaft und der Kampf gegen Diskriminierungen nicht als politische Herausforderung angenommen, sondern als Problem „skurriler Minderheiten“ und Thema von „Lifestyle-Linken“ diffamiert werden, lässt sich dieser zentrale sozialistische Anspruch nicht einlösen.

Emanzipation ist unteilbar, zumal sich die unterschiedlichen Formen von Benachteiligung in der modernen Gesellschaft vielfach überschneiden und verstärken. Die „Normalität kleiner Leute“, die meist männlich gedacht sind, ist eine abstrakte Fiktion, die sich mit der Lebenswirklichkeit einer Schwarzen Lieferkurierin genauso wenig in Deckung bringen lässt wie mit der eines selbstständigen Späti-Betreibers, der vor seiner Flucht aus dem Libanon möglicherweise Medizin studiert hat, in der Freizeit queeren Aktivismus betreibt und nur so lange halbwegs über die Runden kommt, wie die eigene Wohnung nicht an einen börsennotierten Immobilienkonzern fällt. Soziale und freiheitsbezogene Benachteiligungen gegeneinander auszuspielen, ist folglich einer linken Partei unwürdig. Und wenn das (notwendige) Bekenntnis sozialistischer Politik zum Feminismus nicht nur eine leere Phrase sein soll, ist auch überhaupt nicht vermittelbar, warum ein solches für andere Aspekte der gesellschaftlichen Emanzipation nicht auch gilt. Hier hat Die Linke in den zurückliegenden Jahren im gesellschaftlichen Diskurs viel an Konsistenz und Überzeugungskraft eingebüßt.

Abstrakte Geopolitik allein ist nicht genug
Gleiches gilt für die Außenpolitik, wenn nämlich außen- und sicherheitspolitische Fragestellungen primär abstrakt unter dem Aspekt von „Geopolitik“ diskutiert werden, die konkreten Menschen als Subjekte (und ihre Ängste, Wünsche und Bedürfnisse) dabei aber genauso wenig vorkommen wie die Verfasstheit der spezifischen nationalen Gesellschaften. Genau das geschieht derzeit in manchem linken Diskurs im Zusammenhang mit der russischen Aggression in der Ukraine. Die Welt und die Menschen spielen in dieser Lesart bestenfalls als Insassen imperialer Interessensphären und als Verschiebemasse großer Mächte eine Rolle; kaum einer offensiven kritischen Befassung wert zu sein scheinen dagegen der fortschreitende Umbau der russischen Gesellschaft zur repressiven Autokratie, die nachhaltige Kollaboration Putins mit dem globalen Rechtsradikalismus, das russische Streben nach Destabilisierung liberal-demokratischer Verhältnisse oder die demokratische Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung gegen die Unterwerfung unter russische Vormundschaft.

Schließlich sind wir der Auffassung, dass es eine weitere unverzichtbare Säule linker Politik gibt, nämlich der nachhaltige Erhalt und Ausbau der Gemeinschaftseinrichtungen, der öffentlichen Infrastruktur und der Wirtschaftszweige, auf die alle – als gesicherte Garanten der Abwesenheit von Mangel – angewiesen sind. Sie sind nicht nur als sozialstaatliche Einrichtungen zentral für die gesicherte Versorgung mit Nahrung, Energie, Wasser, für Gesundheit, Bildung, Kommunikation und Mobilität. Es sind auch die Sektoren, die für die gesellschaftliche und soziale Reproduktion notwendig sind und die Individuen vor der überfordernden, Distinktion und Ungleichheit fördernden Vereinzelung schützen.

Aus dem Prinzip der Gleichheit ergibt sich, dass jeder in seiner Alltagspraxis zu einer besseren Welt beitragen können soll. Die Einzelne ist unverzichtbar, aber die Verantwortung für das Gelingen gesellschaftlicher Transformationen kann nicht individualisiert werden: Wenn Mindestlohn oder Regelsätze so bemessen sind, dass eine gesunde Ernährung mit nachhaltig produzierten Lebensmitteln nicht bezahlbar ist, so skandalisiert linke Politik nicht das Konsumverhalten, sondern staatliche Instanzen, die einen Teil des demokratischen Souveräns von der aktiven Beteiligung an der Transformation ausschließen. Jede*r soll gleichen Zugang zu Gesundheitsfür- und -vorsorge genießen. Gleichzeitig bleibt die Allgemeinheit in Verantwortung, gegen krankmachende Lebensbedingungen wie Abgase und Lärm vorzugehen. Gerade mit Blick auf die Erfahrungen in der Pandemie oder die Abhängigkeiten von fossilen Energierohstoffen muss gelten: Die öffentliche Infrastruktur, die Versorgung mit den grundlegenden Gütern braucht Reserven und Puffer, die, ähnlich wie Rettungsdienst und Feuerwehr, in der Hoffnung vorgehalten werden, bestenfalls gar nicht benötigt zu werden.

Gleichheit universal zu denken, Konzepte auf universelle Umsetzbarkeit zu prüfen und im politischen Handeln transnationale Zusammenarbeit anzustreben, die Regeln für demokratisch eingebundene Selbstbestimmung zu verteidigen und auszubauen und die notwendigen Gemeinschaftseinrichtungen einer Gesellschaft jenseits des Mangels zu stärken – das müssen die in allen Politikfeldern erkennbaren Säulen und Grundhaltungen sozialistischer Politik in Deutschland sein.

Erforderlich ist ein Signal der Erneuerung des eingefahrenen Politikmodus
Für die Zukunft der Linkspartei wird Optimismus jedoch nur dann am Platze sein, wenn vom kommenden Parteitag in Erfurt (22. bis 24. Juni) auch ein Signal der Erneuerung des eingefahrenen Politikmodus ausgeht.

Dafür kann es nicht reichen, einen Aufbruch nur auf Basis identischer sozialer Interessen erzeugen zu wollen. Es ist daher kontraproduktiv, darauf zu bestehen, die Partei sei für die „einfachen Arbeitnehmer und Rentnerinnen“ da. Das Aufwärmen der einstigen Gründungsimpulse erscheint uns insofern als nicht hinreichend oder erfolgversprechend. Was aber, gerade mit Blick auf die vielbeschworene „Ostidentität“, beispielsweise nicht ausschließt, spezifische soziale ostdeutsche Belange starkzumachen. Nur darf das die gesellschaftliche Perspektive nicht verengen; Die Linke ist nicht „nur für den Osten“ da.

Vielmehr ist sie für alle da, die, unabhängig von Stand und Klasse, für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen eintreten und die darauf bestehen, dass aus der Perspektive der Nicht-Gleichen Politik entwickelt werden sollte. Hierin wird das Gemeinsame erkannt – oder eben nicht. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass es die in mancher Zeitdiagnose beliebten, weil Komplexität reduzierenden Polarisierungen in der Gesellschaft in zwei klare, kohärente Lager nicht gibt, sondern multiple Ungleichheitskonflikte existieren.[2] Die Herausforderung für eine sozialistische Linke besteht daher darin, progressive Allianzen zu bilden, die verschiedenen Ungleichheitsdimensionen zusammenzudenken und gerade gegen solche fatalen Polarisierungen „auf die Willensbildung des Volkes“ Einfluss zu nehmen. Angesichts einer keineswegs besonders links agierenden Ampel-Koalition halten wir für eine solche progressive Linke ein Potential von zehn bis 15 Prozent für durchaus realistisch. Damit könnte das Kräfteparallelogramm hierzulande erheblich nach links verschoben werden.

Zu einem veränderten Politikmodus zählt auch, das Spannungsverhältnis von Werten und Moral einerseits und politischen Handlungsmöglichkeiten andererseits erkennbar zu machen, statt es empörungspolitisch auszubeuten. Politik heißt auch, sich durch die Übernahme von politischer Verantwortung die Hände schmutzig zu machen, weil sich die gesellschaftliche und politische Realität zum Glück gegen ihre Ordnung aus einem Guss sperrt.

Glaubwürdigkeit sozialistischer Politik entsteht dann, wenn aus historischen Erfahrungen gelernt wird. Es braucht dafür einerseits die Utopie einer guten Gesellschaft, aber andererseits auch die Bereitschaft, auch kleine Schritte zu gehen, die (sozialen) Räume zu öffnen, um die bessere Welt in Teilen schon zu leben. Das schützt vor der anti-emanzipatorischen Dynamik großer Gesellschaftsexperimente und stützt einen Politikmodus, der bereit ist, sich zu korrigieren, abzuwägen, was unter den vorherrschenden Kräfteverhältnissen tatsächlich geht und was im Alltagsleben wem möglich ist. Über alledem muss indes ein Leitmotiv stehen: Der Modus der Empörung, der geschichtlichen Notwendigkeiten und der Beschwörung bevorstehender Apokalypsen gehört ersetzt durch einen Modus der Möglichkeiten und der Hoffnungen – vom schulmeisterlichen Belehren hin zu Aufklärung, Debatte und Überzeugung. Nur so wird Die Linke wieder an Attraktivität gewinnen und ihre existenzielle Krise überwinden können.

[1] IPSOS Global Advisor, Presseinformation vom 2.5.2018.

[2] Vgl. etwa Thomas Lux, Steffen Mau und Aljoscha Jacobi, Neue Ungleichheitsfragen, neue Cleavages?, in: „Berliner Journal für Soziologie“, 11/2021; vgl. auch Steffen Mau, Kamel oder Dromedar, in: „Merkur“, 2/2022, S. 16: „Was Fragen der Diversität und der Anerkennungsbereitschaft nichtheteronormativer Lebensformen und Identitäten angeht, stehen die unteren Schichten nicht im deutlichen Kontrast zu den akademischen Mittelschichten; Gleiches gilt für die Positionen zum Klimawandel.“

Themen: Parteien, Kapitalismus
Aus: »Blätter« 6/2022, S. 103-112

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